Tag #132062 - Interview #78297 (Hanny Hieger)

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Danach setzte mich Alfred in einen Zug zu meiner Gastfamilie. Einen Penny hat er mir noch in die Hand gedrückt. Mein Cousin Alfred war selber ein Emigrant, der hat auch nichts gehabt. Englisch konnte ich fast überhaupt nicht, das war schlimm. Ich hab mich in die Ecke gedrückt und hab die Augen ganz fest zugemacht und hab geweint, in der Hoffnung, daß man mich nicht sieht, wenn ich die Augen zu habe. Das Abteil war voll mit Leuten und sie wollten mir helfen. In Crewe mußte ich auch noch umsteigen. Und kalt war's und geregnet hat's und ich war schrecklich allein. Als ich in Cheadle Hulme ankam, hätte mich mein Ziehvater, ein Mr. Jones, ein Universitätsprofessor, abholen sollen. Da hat so ein Gaslampe gebrannt und alles war finster und es hat geregnet. Das Einzige, was ich hatte, war ein Zettel, da stand drauf: Mr. Jones, Cheadle Hulme, nicht einmal eine Adresse. Ein Bahnhofsbeamter hat sich der ans Telefon gesetzt und hat alle Jones's angerufen, und Jones ist kein seltener Name. Endlich hat er den Richtigen gefunden, der gesagt hat, ja, wir erwarten ein Refugee-Kind. Die Mrs. Jones hat ein bißchen Deutsch gesprochen. Bei der Familie Jones mußte ich arbeiten, die dachten, ich bin ein Dienstmädchen. Aber ich war noch zu jung für ein Dienstmädchen. Ich habe aber Dienstmädchenarbeit verrichten müssen, das hat mich nicht gestört. Ich hab meiner Mutter geschrieben, sie soll mir bitte das Rezept für Apfelstrudel schicken. Ich hab mich dort durchgesetzt. Mr. Jones hat aber nicht nur gedacht, daß er ein Dienstmädchen kriegt, sondern auch gleich ein jüngeres Spielzeug. Da hab ich jeden Abend alle meine Kraft zusammengenommen und hab das Bett vor die Tür geschoben. Die haben geglaubt, ich mach' das, weil ich Angst hab, daß die Nazis kommen. Ich hab mich aber auch nicht getraut, irgend jemand was zu sagen, weil ich ja Angst hatte, daß die mich dann zurückschicken. Und ich wußte ja auch, wenn ich jetzt zurückgeschickt werde, daß meine Eltern dann nicht weg können. Das war eine ziemlich miese Situation. Bei Mr. Jones hab ich jeden Dienstag Nachmittag frei gehabt. Jede Woche bekam ich nur Sixpence Taschengeld. Die Fahrt nach Manchester hat einen Shilling gekostet. Wenn ich das Auto gewaschen hab, hab ich einen Penny und zwei Briefmarken bekommen. Die Briefmarken hab ich gebraucht, aber wenn ich dann einen Shilling und einen Penny hatte, bin ich nach Manchester gefahren, dort in die Bibliothek gegangen und hab gelesen. Gegenüber am Albert Square war das Quäker Meeting House, dann bin ich da hingegangen, hab einen Tee getrunken und einen Bun gegessen. Danach bin ich spazieren gegangen, hab mir die Geschäfte angeschaut. Das war mein Dienstag, mein freier Nachmittag.
Period
Year
1939
Location

Cheadle Hulme
Vereinigtes Königreich

Interview
Hanny Hieger