Tag #132271 - Interview #78289 (Gertrude Kritzer)

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Als ich in die erste Klasse kam, begann auch die religiöse Erziehung im
Cheder [8].
Fast jeden Tag hatten wir Religionsunterricht. Die Lehrer waren arme
Burschen aus Polen oder Ungarn, die für einige Monate nach Österreich
gekommen sind. Mein Vater, der mit dem Bürgermeister befreundet war, hat
ihnen Papiere beschafft, die bestätigten, dass sie in der Landwirtschaft
gearbeitet haben. So war es leichter für sie, Zertifikate [9] für die
Einwanderung nach Palästina zu erhalten. Die Lehrer waren sehr streng. Ich
erinnere mich, dass sie uns mit dem Staberl auf die Hände gehauen haben,
wenn wir schlimm waren. Mein jüngerer Bruder Rudi hat mehr Schläge als ich
bekommen. Aber er hat nicht geweint, ich habe mehr geweint.
Meine Vater hat jeden Morgen Tefillin angelegt und gebetet und meine Brüder
haben es natürlich auch tun müssen. Ich weiß noch, dass einer einmal eine
Ohrfeige bekommen hat, weil er mit dem Gebet zu schnell fertig war. Aber
ich glaube, mein Papa hat später, als meine Brüder älter waren, beide Augen
zugedrückt. Es lebten ja überhaupt keine Juden in der Umgebung, alle unsere
Bekannten waren Christen.
Period
Location

Krumbach
Österreich

Interview
Gertrude Kritzer