Tag #133019 - Interview #78548 (Emilia Ratz)

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Die Familie meiner Tante war finanziell auch nicht schlecht gestellt. Sie hatten eine Tochter, die hieß Friederike und war zwei, drei Jahre älter als ich. Mit Friederike verstand ich mich auch nicht besonders, denn erstens war sie dumm, zweitens lernte sie sehr schlecht und drittens waren wir auf demselben Gymnasium. Wenn ich die Klasse verlassen musste, weil ich den Unterricht gestört hatte, musste ich durch ihre Klasse, und sie petzte das meiner Mutter: ‚Die Mila ist schon wieder aus der Schulstunde geflogen!’ Ich war aber eine gute Schülerin! Und ich hatte sehr gute Zensuren auf meinem Maturazeugnis. Friederike wurde von ihren Eltern ausschließlich als Kandidatin zum ‚guten Heiraten’ erzogen. Sie verbrachte die meiste Zeit vor dem Spiegel, ich aber war in einer ganz anderen Phase: Ich versuchte auch, mit allerdings beschränkten Mitteln, mich gut anzuziehen, war aber immer sehr beleidigt, wenn man nur mein Äußeres sah. Ich wollte immer, dass man unbedingt gleich meinen Intellekt durchleuchtet. Die Friederike ließ das alles kalt, lieber war sie auf der Suche nach einer ‚guten Partie’. Sie heiratete auch wirklich einen Anwalt, der älter war als sie. Ich gefiel damals einem Studenten vom vierten Jahr. Das heißt, er war vier oder fünf Jahre älter als ich. Da dachte ich, der ist verrückt, das ist ein alter Mann, was will der von mir! Und als Friederike 1938 den Anwalt Stützer heiratete, dachte ich auch so ähnlich. Ich war nicht die Einzige, die so dachte. Aus meiner Klasse, es waren alles jüdische Jugendliche, wollten höchstens 25-30 Prozent nach der Matura heiraten. Die anderen wollten weiter studieren.
Period
Location

Warsaw
Polen

Interview
Emilia Ratz