Tag #133059 - Interview #78548 (Emilia Ratz)

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Als die Deutschen in Warschau einmarschierten stand ich mit den Händen zu Fäusten geballt auf der Strasse. Sie marschierten ein wie die Helden: schwarz gekleidet, mit Panzern und mit überheblichen Gesichtern. Ich lief nach Hause und kämpfte mit meinen Eltern, ich wollte, dass wir zusammen fliehen. Mein Vater sagte: ‚Was willst du, du bist ein Kind, du verstehst nichts, das ist alles übertrieben.’ Und meine Mutter sagte: ‚Weißt du, die Deutschen sind doch ein zivilisiertes Volk, denk an Goethe und Schiller!’ Ich musste einsehen, dass es aussichtslos ist. Zwei Jahre vor dem Krieg war die wirtschaftliche Lage besser geworden: meine Eltern hatten Möbel und solche Sachen gekauft, und daran klammerten sie sich. Dann kämpfte ich um meine Schwester. Da bekam mein Vater wirklich einen Wutanfall. ‚Was bildest du dir ein, du bist nicht erwachsen!’ Daraufhin zog ich zu meiner Freundin Halina Altmann. Sie hatte sehr fortschrittliche Eltern, die Mutter war damals sogar für ihre politische Überzeugung im Gefängnis, oder schon entlassen, ich weiß das nicht mehr so genau. Sie waren alle links und beschlossen zu flüchten. Halina floh nach Lemberg [heute Lviv, Ukraine] und studierte an der Universität. Ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder flohen nach Lutzk, einem kleinen Ort, der unter russischer Herrschaft war und heute in der Ukraine liegt. Der Vater war gerade auf einer Dienstreise in Kiew, als die Deutschen in Lutzk einmarschierten und die Mutter und den Bruder von Halina ermordeten. Halina und ihr Vater überlebten den Holocaust.
Period
Location

Warsaw
Polen

Interview
Emilia Ratz