Tag #133068 - Interview #78548 (Emilia Ratz)

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Als ich am Abend in Lemberg aus dem Zug stieg, stand ich auf dem Bahnhof wie eine arme Waise. Ich war niemals vorher in dieser Stadt. Ich wusste, dass Lemberg ein kulturelles Zentrum ist, mehr aber auch nicht. Eine Frau sprach mich an und sagte zu mir:
‚Mädchen du bist sicher ein Flüchtling!’
‚Ja!’
‚Hast du jemandem, wo du schlafen kannst?’
‚Nein!’
‚Du kannst bei mir schlafen. Ich habe leider nur eine sehr kleine Wohnung, aber ich lege dir eine Matratze in die Badewanne, und dort kannst du schlafen.’
Ich sagte: ‚Wissen Sie, ich will auf die Uni!’ Meine Wohltäterin war eine Lehrerin. Ich sagte: ‚Ich habe überhaupt kein Geld, aber auf der Uni habe ich vermutlich sehr viele Freunde.’ Ich kannte ja aus Warschau viele junge Leute, auch ältere Studenten.

Am nächsten Tag schrieb ich meinem Onkel: ‚Bin angekommen!’

Und wirklich, ich hatte auf der Uni viele Bekannte. Ich war die Jüngste von allen, und alle fühlten sich verpflichtet, mir zu helfen. Es war Anfang November und die Prüfungen waren schon vorbei. Aber es gab ein Studentenkomitee, denn es war ein außergewöhnlicher Jahrgang. Es waren viele Leute, die niemals die Uni hätten betreten dürfen, Juden und Kommunisten. Und sie hatten erkämpft, dass wir eine außerordentliche Prüfung ablegen durften, um zu studieren.
Period
Location

Lemberg
Polen

Interview
Emilia Ratz