Tag #115007 - Interview #78283 (Alice Granierer)

Selected text
Hebräisch war die Sprache, mit der wir Kinder aufgewachsen sind. Wir haben in der Schule hebräisch gesprochen, mit den Kindern beim Spielen und den Nachbarn. Meine Mutter hat es nie gelernt, der Vater hat es ganz gut gesprochen. Wir waren schon so weg vom Deutsch, dass der Papa uns manchmal für die Mama übersetzen musste: Papa wie sagt man? Sag´s der Mama.

Mein Vater hat auch in Palästina Büroartikel verkauft, und die Mutter hat ihm dabei geholfen. Zu manchen Firmen ist gleich meine Mutter gegangen, weil sie dort bessere Abschlüsse gemacht hat.

In Jerusalem haben wir in einer Zweizimmerwohnung gewohnt, da war alles sehr klein. Man ist Stiegen runtergegangen, und ein schmales Fenster war oben, da haben wir gesehen, wie die Leute vorbeigehen. Die Wohnung war in Beth Israel in der Nähe der 'ungarischen Häuser', nicht weit vom orthodoxen Viertel Mea Schearim.

Jeden Samstag hat der Papa uns in der Früh genommen, und wir sind zu Fuß durch den Shuk [Markt] zum Kotel [Klagemauer] gegangen. Wir waren nicht fromm, aber Fasten zu Jom Kippur [2] und ein koscherer [3] Pessach [4] waren Pflicht.

Und dann, wie ich elf, zwölf Jahre alt war, ist meine Mutter mit meinem Vater nach Haifa oder nach Tel Aviv verkaufen gefahren, und ich bin von der Schule zu Hause geblieben und hab vier kleine Kinder betreut. Ich hab alleine kochen müssen.

Und in Israel kochen war nicht: Da-dreht-man-den- Herd-auf, sondern wir hatten einen Primus, so einen kleinen mit Gas betriebenen Kocher. Der ist oben gestanden, und ich bin auf einem Stockerl gestanden und habe gekocht. Was habe ich kochen können mit elf Jahren: Mohnnudeln, einmal Nussnudeln, einmal eine Suppe und Salat.

Ich hab die Kinder zur Schule geschickt, und ich habe für sie gekocht. Meine Mutter hatte gesagt: 'Lizzi, du gehst zu dem Rivlin,' das war der Mann von dem Makolet [Lebensmittelgeschäft], 'der schreibt auf. Wenn ich Donnerstag zurückkomme, bezahle ich das.' So war das. Sie ist sonntags weggefahren, und ich bin zum Rivlin einkaufen gegangen.

Als erstes hab´ ich Nudeln an dem Tag gekocht. Und hab´ die Nudeln mit kaltem Wasser aufgestellt. Das war natürlich verkehrt. Die Nudeln sind geworden wie ein Brei. Ich hab´ nix gehabt, was ich den Kindern geben hätte können, wenn sie von der Schule kommen. Ich hab´ geweint und war unglücklich.

Ich bin zu dem zum Geschäft gegangen: 'Was soll ich machen? Das ist ja Mehl geworden. Du hast mir schlechte Nudeln verkauft.' Der Rivlin hat gesagt: 'Kinderl, wie hast du´s denn aufgestellt?' 'Na, mit kaltem Wasser und Salz.

So hat die Mama das gesagt: In Salzwasser kochen!' Aber in kochendes Wasser musst du sie ´reingeben. Da, nimm diese Nudeln und schmeiß´ das andere weg.' Und so hab ich´s gemacht.

Und mit dem Primus habe ich zum Beispiel folgendes erlebt: Es war Pessach, und die Mama war weg. Die Küche war kohlschwarz von dem Primus. Und ich wollte der Mama eine Freude machen und hab Kalk gemischt, um die Küche auszumalen.

Ich hab Kalk genommen, hab ihn aufgelöst, hab mich auf den Sessel gestellt, hab gepinselt, hab blutig offene Hände gehabt. Der Kalk hat sich in meine Hände reingefressen. Aber die Küche war weiß. Die war so schön sauber, das kann man sich nicht vorstellen.

Wir haben in einer Sackgasse gewohnt, und die Kinder haben immer draußen gespielt, während ich die Wäsche mit der Hand gewaschen habe und gekocht habe. Auf einmal ist mein kleiner Bruder hereingekommen und hatte alle fünf Finger auf der Wange.

Ich sagte: 'Tuli, wer hat dich geschlagen?' 'Der Adon Guzig.' 'Wie kommt er dazu, dich zu schlagen? 'Ich hab mit Schmulik, seinem Sohn, gestritten. Und der Schmulik ist zu ihm weinen gegangen. Da hat er mir eine gegeben. Ich habe meinen Bruder an der Hand geschnappt und bin zum Guzig gerannt.

Herr Guzig war Tischler und vielleicht zwei Meter groß, und riesen Muskeln hat er gehabt, und ich war so klein. Und der beugt sich herunter zu mir. 'Herr Guzig, schämen Sie sich nicht? Meine Eltern sind nicht auf eine Luxusreise gefahren, sie sind arbeiten gefahren, damit wir zu essen haben.

Und Sie schlagen meinen kleinen Bruder. Schämen Sie sich!' Er ist aufgestanden, ist weggegangen und hat nichts gesagt. Ich bin nach Hause gegangen. Das hat mich so fertig gemacht, dass ich auf den Stiegen gesessen bin und geweint habe.

Meine Schwester Inge, die jüngste, ist ein kleines Klaftale [Anm.: großes Mundwerk] gewesen. Sie ist nach Hause gekommen: 'Lizzi, was ist los? Hast du von den Eltern eine schlechte Nachricht?' 'Nein.' Ich habe ihr dann erzählt, was passiert war.

Da sagte sie: 'Was hast du gemacht? Nur gesagt hast du's ihm? Tuli, komm!' Und sie hat ihn geschnappt und ist gegangen. Und Herr Guzig hat sich auch zu ihr heruntergebückt - sie war noch kleiner als ich. Sie sagte:

'Herr Guzig, meinem Bruder haben Sie eine Ohrfeige gegeben? Da haben Sie eine zurück!' Und schmiert ihm eine. Er hat ihr eine zurückgeschmiert, und sie hat gesagt: 'Das tut nicht weh. Aber was ich Ihnen gegeben hab, wird Ihnen keiner wegnehmen.'

Es war nicht leicht, aber trotz allem muss ich sagen, wenn Erev Schabbat [5] gekommen ist, wir haben doch nicht viel Geld gehabt, hat meine Mama eingekauft, damit wir Fleisch und Fisch haben.

Da hat man die kleinen Fischele gekauft und hat sie faschiert und hat gefillte Fisch davon gemacht. Dann hat sie fünf Hühnerflügerl gekauft, damit jedes Kind ein Flügerl hat. Der Papa hat ein Pulkerle [Hühnerbein] bekommen. Und so haben wir jeden Freitagabend gefeiert.

Und beim Essen, wir haben ja keine sieben Sesseln gehabt, saßen immer zwei Kinder auf einer Seemannskiste, mit denen wir eingewandert waren, und die Mama hat Kerzen gezündet.

Trotz allem hatten wir eine schöne, warme Kindheit. Unsere Eltern haben uns gegeben, was sie konnten, mehr haben sie nicht gehabt.
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Jerusalem
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Alice Granierer