Tag #115060 - Interview #78568 (Aron Neuman)

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Meine Schwester Esther wurde 1914 geboren. Sie und Raphael Mandelmann lernten sich kennen, verliebten sich und heirateten. Sie hatten ein Söhnchen, Mietek. Das Kind wurde 1939 geboren, und meine Schwester flüchtete mit Mietek nach Warschau. Sie hatte eine Adresse bekommen und war bei einer Witwe versteckt. Solange sie Geld hatten, konnten sie bei der Witwe bleiben. Als sie kein Geld mehr hatten, die Witwe war auch sehr arm, versuchte sie, meine Schwester mit Tabletten umzubringen. Um Mietek hat sie sich gekümmert, den liebte sie. Eines Tages hatte mein Bruder Karl in seinem Versteck einen Traum: Der Großvater Alter Ptasnik, der die Schwester Esther getraut hatte, kam zu ihm und wollte ihn mit einer Krücke schlagen. Du hast deine Schwester vergessen, du kümmerst dich nicht darum, was mit deiner Schwester passiert! Am nächsten Abend nahm Karl sich eine Droschke, fuhr zu dem Versteck unserer Schwester Esther und fand sie bewusstlos auf einem Strohsack. Er brachte Esther und Mietek zur Droschke, fuhr zu den Leuten, die ihn und seine Familie versteckten, und sie nahmen auch Esther und Mietek auf. Nachdem es Esther wieder gut ging, bekam sie ein anderes Versteck. 1946 ging Esther nach Deutschland und arbeitete in einem DP Lager [4] in Wasseralfingen, weil sie in die USA emigrieren wollte. Dort lernte sie einen Juden, einen Überlebenden des Ghettos in Lodz kennen, der Koslowski hieß. Esther ging mit Mietek in die USA und wurde dort sehr gut aufgenommen. Eine jüdische Organisation schickte sie in ein kleines Städtchen. Dort bekam sie eine herrlich eingerichtete Dreizimmerwohnung mit allem drum und dran, voller Kühlschrank, alles war da, und überall standen Geschenke. Wie sie reingekommen ist in die Wohnung, hat sie angefangen zu weinen. Da haben die Leute vom Komitee sie gefragt, ob die Wohnung ihr nicht gefällt: ‚Doch’ hat sie gesagt, ‚aber zum ersten Mal nach dem Krieg habe ich eine Wohnung, ein Dach über dem Kopf.’ Sie war die erste Holocaust-Überlebende, die in dieses Städtchen kam. Sie lernte Englisch und Mietek ging in die Schule. Alle paar Tage fand sie Pakete neben der Tür von jüdischen Mitbewohnern. Nach einigen Monaten kam Herr Koslowski, er hatte sich in sie verliebt. Sie heirateten und gingen zusammen nach San Francisco, weil er dort einen Bruder hatte. Das war der größte Fehler, den sie gemacht hat. Sie hätte mit ihrem Sohn in dem Städtchen bleiben sollen. In San Francisco eröffneten sie ein koscheres Delikatessengeschäft. Sie musste schwer arbeiten, es war eine schlechte Ehe, und Esthers Sohn, den Mietek, hat er gehasst. 1970 traf ich meine Schwester mit ihrem Mann in Israel. Wir hatten uns viele Jahre nicht gesehen. Herr Koslowski starb 1972 oder 1973 an Krebs.
Interview
Aron Neuman