Tag #115067 - Interview #78568 (Aron Neuman)

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Ich kam eine Woche vor Kriegsausbruch zurück. Die Straßen waren leer, es war schon Kriegsstimmung. Mein Vater hatte gesagt: ‚Komm gesund zurück nach Hause!’ Und ich bin zurückgekommen und habe den ganzen Krieg mitgemacht!

Als die Deutschen einmarschierten, bin ich mit einem Fahrrad aus Kattowitz geflüchtet. Meine zwei Schwestern mit den Schwägerinnen und mit den Kindern waren schon in Sendzishow, nur wir vier Männer blieben noch in Kattowitz und in Königshütte. Ich war der Letzte. Als die Bahnstation bombardiert wurde, war niemand mehr da. Meine Brüder waren auch schon weg. Ich ging zum Onkel Meir und wohnte einige Tage bei ihm. Am Freitag den 1. September 1939 begann der Krieg. Am darauf folgenden Dienstag marschierten die Deutschen in Königshütte ein. Um zu meinen Eltern zu gelangen, musste ich über eine Brücke. Dort standen zwei junge deutsche Wehrmachtssoldaten und aßen Brot. Einer brach ein Stück ab und wollte es mir geben, aber ich nahm es nicht und er sagte:
‚Beim Marktplatz stehen Namen wie Friedberg, Rothmann, Rothstein auf den Schildern der Geschäfte. Was sind das, Deutsche?’
‚Nein, das sind jüdische Geschäfte.’
‚Ach so, jüdische Geschäfte. Sind Sie auch Jude?’
‚Ja, ich bin Jude.’
‚Ihr werdet jetzt was erleben, der Hitler wird es euch zeigen.’
‚Sagen Sie bitte, warum?’
‚Ihr habt den Christus gekreuzigt.’ Das war meine erste Begegnung mit den Nazis.

Meine Eltern lebten in unserem Bauernhaus, hatten fünf oder sechs Kühe, und es gab noch genug zu essen. Meine Mutter und meine Schwägerin Mala haben Brot gebacken, auch den Schabbat haben meine Eltern noch gehalten. Der Vater hat weiter gebetet, aber wir Kinder nicht mehr, keiner von uns! Bis 1942 mussten wir Juden alle möglichen Arbeiten verrichten: im Winter Schnee schaufeln, Straßen reinigen, alles Mögliche. Ich wurde zum Sekretär der jüdischen Gemeinde bestimmt. Als Sekretär musste ich alle Juden registrieren, Listen aufstellen und Lebensmittel verteilen, die die Deutschen den Juden zugeteilt hatten. Selbstverständlich war das sehr wenig, aber wir konnten noch irgendwie leben.

Die Bahnstation wurde ausgebaut. Dafür gaben die Deutschen polnischen Firmen die Aufträge. Jerzy Malinowsky, ein Ingenieur aus Warschau, war Besitzer vieler Firmen. Er rettete vielen Menschen das Leben. Er hatte einen Kompagnon, einen Deutschen, der ihm Aufträge besorgte und bekam den Auftrag, acht große Holzhäuser für die polnischen Bahnangestellten zu bauen. Täglich kamen ein, zwei Waggon Schnittholz an, die er eingekauft hatte. Sie suchten einen Holzfachmann, da habe ich mich dort gemeldet und wurde aufgenommen. Ich musste einen Holzplatz gründen, das hatte ich bei meinem Bruder gelernt.
Ich bekam zwanzig Juden für die Arbeit, dort waren schon siebzig Leute, die das Arbeitsamt vermittelt hatte. Die Waggons mussten ausgeladen, und das Holz ins Lager gebracht und fachmännisch gestapelt werden. Nach drei Wochen kam der Direktor Malinowsky - er war schon über fünfzig Jahre alt und sehr reich - gab mir die Hand und sprach mit mir über die Arbeit. Er hat sofort erkannt, dass ich ein Fachmann war.

Inzwischen waren schon viele Städte ‚judenrein‘, die Gefahr wurde immer größer. Mein Bruder Karl meldete sich bei einer anderen Firma freiwillig zur Arbeit und schickte seine Frau mit den zwei Kindern nach Warschau.

Der Vater sagte zu mir, dass ich meinem Bruder Martin, den Frauen und den Kindern helfen soll. Ich ging zum Leiter des Holzplatzes, aber er wollte keine Juden mehr beschäftigen.
Kurze Zeit später kam der Direktor Malinowsky wieder. Er war sehr zufrieden mit mir und den Arbeitern, und ich nutzte die Gelegenheit und bat ihn, meine Familie im Lager aufnehmen zu dürfen. Ich habe geglaubt, uns dadurch retten zu können. Er hat mir gestattet, 250 bis 300 Juden aufzunehmen, und wenn nötig, noch eine Baracke für die Menschen dazu zu bauen. Daraufhin habe ich meinen Vater, meinen Bruder Martin, die beiden Söhne Dolek und Isidor, meine Schwester Hanna, ihren Sohn Shmuel, die Schwägerin, drei Cousinen und Cousins und  einen anderen Neffen zu mir geholt. Alle wollten sich retten. Malinowsky ließ dann eine Baracke für die Frauen bauen.

Meine Mutter wurde von 1942 bis Anfang 1943 von einem Polen versteckt. Es begannen die Deportationen, und wenn sie zu wenige Leute für die Waggons hatten, gingen sie in die Firmen. Die SS, die Litauer und die Ukrainer umstellten unser Lager. Als wir um fünf Uhr die Arbeit beendet hatten, hörten wir: ‚Juden raus!’ Dann führten sie eine Selektion durch. ‚Was macht der alte Jude hier,‘ fragte ein SS Mann den Dolmetscher und deutete auf meinen Vater. Der antwortete: ‚Das ist ein tüchtiger Tischler.’ Mein Vater war Tischler wie ich Priester bin, aber er durfte bleiben. Meinen Neffen, den Izio, nahmen sie mit, zwei Cousins, meine Schwester Hanna, meine Schwägerin und andere Verwandte. Geblieben ist mein Vater, mein Bruder Martin mit dem Sohn Dolek und Shmuel, der Sohn meiner Schwester Hanna. Shmuel war 13 Jahre alt, den hatten sie übersehen. Er blieb am Leben und lebt noch heute in Israel. Wie sie uns einsperrten in die Baracke, als die anderen weggeführt wurden in die Waggons, hat mein Vater bitterlich geweint. Er hat den Izio sehr geliebt, das war sein liebstes Enkelkind. Dann hat er zu uns gesagt: ‚Meine Kinder, ich werde euch was sagen. Ich habe mein ganzes Leben lang gebetet und an Gott geglaubt. Heute sage ich euch, es gibt keinen Gott, der Himmel ist leer. Warum hat der Herrgott Kinder auf die Welt bringen lassen, die man jetzt umbringt? Warum?‘ Und ich sage auch heute, wie mein Vater: Der Himmel ist leer, es gibt keinen Gott!

Danach habe ich mir fürchterliche Vorwürfe gemacht, weil ich sie alle geholt hatte. Ich habe zwei Tage nichts runterschlucken können, nicht einmal Wasser. Ich habe mich nicht rasiert, bin verwahrlost. Am dritten Tag in der Früh, ich war wie betäubt, traf ich den Direktor Malinowsky. Er sagte: ‚Machen Sie sich keine Vorwürfe, Herr Neuman, Sie sind nicht Schuld, Schuld sind die deutschen Barbaren. Sie sind jung, Sie sprechen fabelhaft Polnisch, Sie sehen nicht aus wie ein Jude, Sie müssen jetzt an sich denken. Ich weiß, was hier passieren wird. Hauen Sie schnell von hier ab.’
‚Wohin soll ich abhauen Herr Direktor, in den Wald? Es kommt der Winter, ich werde doch krepieren im Wald, und einen anderen Ausweg habe ich nicht.’
‚Verschaffen Sie sich polnische Papiere. Ich komme in zwei, drei Wochen wieder. Zeigen Sie sich mir am Fenster, wenn Sie weg wollen. Ich verschaffe Ihnen am anderen Ende Polens eine Stelle, aber machen Sie schnell.’

Mein Bruder Josef hatte von dem Österreicher, der als kommissarischer Leiter seines Sägewerkes eingesetzt war, erfahren, dass er sich einen Fachmann suchen und den Juden Neuman bis zum 30. oder 31. Dezember zur Gestapo bringen soll. Seine Frau hatte er schon in Sicherheit gebracht, alle hatten polnische Papiere. Er hatte kein Geld mehr, aber auch er hatte schon polnische Papiere. Er bat mich, den Direktor auch für ihn irgendwo in Polen um Arbeit zu bitten. Er war gefährdet, er musste schnell weg. Ich bat den Direktor, wollte sogar auf meinen Platz verzichten, denn mein Bruder hatte Familie und ich nicht. Aber der Direktor besorgte meinem Bruder sofort eine Arbeit.
Period
Year
1939
Location

Poland

Interview
Aron Neuman