Tag #115068 - Interview #78568 (Aron Neuman)

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Mein Bruder schrieb mir aus Baligrod [Polen], dass ich kommen soll, aber ich hatte kein Geld. Ich brauchte 1 500 Zloty, da habe ich meinen Mantel für 375 Zloty verkauft. Ich hatte großes Glück: Zwei Männer kamen zu mir mit der Bitte, dass ich eine wertvolle Uhr für sie verkaufen soll, sie wollten dafür Fünftausend Zloty. Was ich mehr bekommen würde, könnte ich behalten, bei einer geringeren Summe bekäme ich zehn Prozent. Nach der Arbeit im Lager schlich ich mich hinaus. Ich fand eine Familie, die mir 6250 Zloty für die Uhr gab. Ich bekam sogar noch eine Eierspeise aus sechs Eiern, ein großes Brot und zwei frische Würste. Ich hatte nun die 1 500 Zloty und konnte mir falsche Papiere machen lassen. Eine Woche später bekam ich die gefälschte Kennkarte auf den Namen Adolf Drabinski - das war im November 1942. Mein Bruder hatte eine Kennkarte mit dem polnischen Namen Eduard Socha. Ich habe mich von meinem Bruder Martin und seinem Sohn Dolek und von Shmuel, dem Sohn meiner Schwester Hanna verabschiedet. Vier Leute meiner Familie sind noch dort geblieben. Mein Vater war schon zerbrochen, schon kein Mensch mehr. Wie ich mich vom Vater verabschiedet habe, habe ich ihm noch die Hand gegeben, ihn geküsst und umarmt. Dann gab ich ihm 300 Zloty. Mein Vater sagte: ‚Mein lieber Sohn, meine alten Augen werden dich nie mehr sehen.’ Es war furchtbar!

Die Deutschen stellten später eine Falle auf. Auf Plakaten stand geschrieben, es gäbe vier Ghettos in Polen, wo die Juden Asyl bekämen und dort gut leben könnten. Ein Ghetto lag in der Nähe, einhundert Kilometer entfernt, und viele ältere Juden wollten dahin. 150 Zloty bezahlten sie pro Person für den Transport auf einem Lastwagen. Der Vater nahm dafür die 300 Zloty, die ich ihm gelassen hatte. Nach meiner Flucht war er sehr krank geworden. Er ließ die Mama fragen, ob sie mit ihm in das Ghetto gehen wolle. Sie antwortete: ‚Wo du hingehst, gehe ich auch hin.’ Nach einer Woche oder zehn Tagen wurden sie umzingelt und in Viehwaggons verfrachtet. Ich traf später einen Bekannten, der zur Arbeit aussortiert worden war und überlebt hatte - Lefkovits hieß er. Er sah meine Eltern, wie sie Hände haltend in den Waggon reinmarschiert sind. Das war das Ende, sie wurden in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet.

Zwei Polen, die mich aus dem Lager kannten, haben mich auf meiner Flucht begleitet, um mir im Notfall zu helfen. Wir sind in Przemysl [Polen] angekommen, und am nächsten Morgen bin ich ins Büro auf die Kathedralna 3 gegangen, so wie der Direktor mir das gesagt hatte. Ich werde das nie vergessen. Die Polen haben mich noch immer begleitet und zu mir gesagt: ‚Wenn du hier nicht aufgenommen wirst, nehmen wir dich sofort mit nach Warschau. Wir haben schon einen Platz für dich vorbereitet.’ Sie hatten mich sehr gern. Im Büro saß am ersten Schreibtisch ein Mann, den ich gut kannte; es war mein Vorgesetzter aus dem Zwangsarbeitslager aus Sendzishow. Ich war selbstverständlich ohne Judenstern, ich schaute ihn an und er mich:
‚Sie wünschen?’
‚Mein Herr, mich schickt der Direktor Malinowsky.’
‚Wie heißen Sie?’ Dann zwinkerte er mir zu.
‚Adolf Drabinsky‘, sagte ich.
Ich hatte verstanden, ich brauchte keine Angst haben. Auf einmal war ich frei!

Mein Bruder war schon nicht mehr dort, den hatten sie in ein Sägewerk weiter geschickt.
Mein ehemaliger Vorgesetzter nahm mich mit zum Abendessen. Es gab gutes Essen, wir saßen wie Menschen an einem Tisch. ‚Hören Sie, ich bin religiös und ich glaube an Gott. Ich war eigentlich ein Judenhasser. Ich habe auf der Uni studiert, und auf der Uni war schon der Numerus Clausus für Juden eingeführt. Die Juden mussten links sitzen, manchmal wurden sie auch verprügelt. Ich war der Meinung, sie sollten auswandern - nach Palästina oder Madagaskar - aber sie töten, die von Gott so wie wir erschaffen wurden, dagegen bin ich.‘
Er hat uns später sehr geholfen. Zwei Tage später fuhr ich zu meinem Bruder. Es ging ihm gut. In dieser Zeit kam auch seine Frau Helene mit der Tochter Dunja zu ihm. Nach ein paar Tagen musste ich in ein anderes Sägewerk, ganz in die Nähe von Baligrod. Meinem Bruder wurde die Leitung des gesamten Büros übertragen, und er bekam viele Aufträge.

Ein Dreivierteljahr später schickte uns Malinowsky einen Brief mit einer Lohnerhöhung. Die Preise waren gestiegen, und er hat unsere Gehälter erhöht. Josef, als Leiter des Sägewerkes, bekam statt sechshundert, eintausend Zloty und ich bekam zuerst vierhundert und dann sechshundert Zloty. Das waren sehr gute Gehälter. Er bat uns um Passfotos, die wir ihm schickten, und wir bekamen von ihm ein Empfehlungsschreiben von dem Generalgouverneur Hans Frank [6]. Darin stand, dass wir für die Deutsche Wehrmacht arbeiten würden. Bei Kontrollen gab es dadurch nie Probleme

Einmal kam er uns auch besuchen. Sein Mitarbeiter war ein bulgarischer Ingenieur, der hieß Petrow Krum, der wusste alles über Malinowsky und half ihm sogar einen Juden aus dem Gefängnis in Stanislau [heute Ukraine] zu retten. Zwei Tage waren sie unsere Gäste. Er hat uns nicht vergessen, und als die Russen anrückten, hat er seinen Chauffeur geschickt, damit wir uns vor den Deutschen in Sicherheit bringen können. Leider wurde der Chauffeur von den Deutschen nicht durchgelassen, er musste zurück nach Krakau. Nach dem Krieg hat mir Malinowsky, der dann als Professor an der berühmten Universität in Krakau lehrte, die Geschichte erzählt. Ich möchte veranlassen, dass für ihn ein Baum in der ‚Allee der Gerechten‘ [7] in Jerusalem gepflanzt wird.

In Baligrod lebten ungefähr zwanzig polnische Familien, und zweitausendfünfhundert Ukrainer. Am 6. August 1944 ist eine Bande Ukrainer in dieses Städtchen eingedrungen
Die Deutschen stellten gemeinsam mit den Ukrainern eine SS Division auf, um gegen die Russen zu kämpfen. Aber als sie in die Ukraine kamen, sind viele Ukrainer desertiert und - die Deutschen waren schon fast fort - haben alle Polen umgebracht, die sie erwischt haben, auch meinen Bruder Josef und den Juden, den Malinowsky mit seinem Chauffeur aus dem Gefängnis befreit hatte. Beide wurden auf dem christlichen Friedhof in Baligrod begraben.
Period
Location

Poland

Interview
Aron Neuman