Tag #115264 - Interview #78548 (Emilia Ratz)

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Das Pogrom in Kielce [22] sahen mein Mann und ich als so genannten ‚Ausrutscher’. Wir glaubten, das wären noch ‚Gestrige’, die das getan hatten. Krakau war ein kulturelles Zentrum, eine ehemalige Hauptstadt Polens. Dort lebte viel Intelligenz, auf jeden Fall kann ich nicht sagen, es hätte eine Pogromstimmung gegeben.

Allerdings gab es einen Druck von oben, man solle sich ‚Einpolen’, wie ich das nenne, man sollte polnische Familiennamen annehmen. Darüber gab man 1947 oder 1948 Dokumente heraus. Man rief uns auf die Miliz und sagte, wir sollen den Namen Ratz in Raczynski oder Rakowski oder so etwas verändern. Da sagte mein Mann: ‚Das Einzige, was mir von meiner Familie geblieben ist, ist mein Name, und den verändern wir nicht!’ Die meisten Juden in Polen änderten aber ihre jüdischen Familiennamen. Einmal rief mich ein Mann geschäftlich aus Poznan an. Nach dem geschäftlichen Teil des Gesprächs begann er mir jüdische Witze zu erzählen. Die Witze waren nicht schlecht, und ich lachte auch, aber dann sagte ich zu ihm: ‚Wissen Sie, ich bin nicht sicher, dass man einem Menschen, dessen Vater Israel hieß, so eine Menge solcher Witze in so kurzer Zeit erzählen sollte.’ Er war komplett schockiert und sagte: ‚Es tut mir leid, aber wenn Sie Rakoschka, Ratschenski oder so etwas geheißen hätten, hätte ich vielleicht vermutet, dass sie Jüdin sind, aber wenn Sie Ratz heißen?’

Als ich schon in Warschau arbeitete, traf ich einen etwas älteren Studienkollegen, und ich wusste, dass er seinen Familiennamen geändert hatte. Wir waren auf zwei verschiedenen Verhandlungsseiten, und er wusste, dass ich ihn kenne. Er gab mir die Hand und nannte seinen neuen polnischen Familiennamen. Ich hielt das nicht aus, gab ihm auch die Hand und sagte: ‚Noch immer ‚Ratz’!

Mein Mann wurde 1949 nach Warschau in eine PKW Fabrik versetzt. Als Leiter einer polnischen Gruppe Ingenieure schickte man ihn für ein halbes Jahr nach Italien zu ‚FIAT’, zur Schulung. Dann übersiedelten auch mein Sohn Alexander und ich nach Warschau. Am 19. Mai 1952 wurde meine Tochter Margarete in Warschau geboren. Ich bekam Arbeit in der ‚Staatlichen Plankommission’ als Referentin. Eigentlich wäre ich lieber in ein Werk gegangen, aber man sagte, in der ‚Staatlichen Plankommission’ brauche man gute Leute. Dort arbeitete ich dann auch bis zu meinem Rauswurf 1968.

Nach dem Sechstagekrieg [23] 1967 in Israel, begann sich in Polen eine antisemitische Atmosphäre breit zu machen. Es wurde noch nichts offen ausgesprochen, aber es war zu spüren. Einige Wenige trauten sich sogar auf Versammlungen herumzuschreien, aber offen sagen, dass die Juden aus Polen verschwinden sollen, traute sich niemand.

Mein Chef rief mich eines Tages zu sich, er hatte mich immer sehr geschätzt und sagte zu mir, ich könne nicht mehr auf meiner Stelle arbeiten, weil mein Mann eine Schwester in Israel habe, und sie deswegen kein Vertrauen mir gegenüber mehr haben könnten. Ich bekäme aber eine gleichwertige Stelle angeboten. Ich bekam keine Stelle und ging dann zum oberen Chef, weil ich glaubte, der sei ein intelligenter Mann und politisch am rechten Ort. Aber er war ein wahnsinniger Angsthase. Ich bekam dann einen Posten in einer Bank als technischer Berater. Es gab - ich kann das aber nicht belegen, weil ich auch dort zwar viel weniger verdiente als in meiner vorherigen Arbeitsstelle, aber für dortige Verhältnisse immer noch gut - wahrscheinlich eine Instruktion, dass die aus ihren Ämtern geworfenen Juden natürlich auch finanziell spüren sollten, dass sie in Polen nicht erwünscht waren. Mein Mann hatte seine Arbeitsstelle behalten, aber schon 1956, während der ersten antisemitischen Welle in Polen, wollte mein Mann Polen verlassen. Viele Leute gingen damals, aber dann wurde es etwas lockerer. Nun mussten wir im Alter von 50 Jahren einsehen, dass wir uns geirrt hatten.
Interview
Emilia Ratz