Tag #115304 - Interview #78280 (Erika Rosenkranz)

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Als ich Anfang der 1950er-Jahre nach Wien kam, war jeder Österreicher in meinen Augen ein Nazi. Das verging nach einiger Zeit. Während der Waldheim- Affäre [8] fühlte ich mich sehr gut. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Ich lebe hier in einer Gegend mit sehr vielen Sozialisten. Die grüßten mich auf einmal sehr freundlich, weil sie sahen, Waldheim lügt und ich hatte gelitten.

Es gab immer wieder Zeiten, da habe ich geglaubt, hier in Österreich nicht leben zu können. Aber wohin hätte ich gehen sollen? Südfrankreich ist für mich so etwas wie eine Heimat, aber dort gibt es auch Antisemitismus, das ist nicht besser als in Österreich. Ich liebe Israel, aber dort ist es sehr gefährlich, immerzu gab es Kriege und die Auseinandersetzungen mit den Palästinensern hören nicht auf. Ich hab Frieden geschlossen, ich nehme es, wie es ist. Ich bin jetzt schon zu müde, um irgendwohin zu gehen. Außerdem will mein Mann, sofern es irgendwie geht, unbedingt in Wien bleiben.

Ich bin gläubig, aber nicht religiös. Mein Herrgott ist überall und immer mit mir, und er versteht jede Sprache, nicht nur hebräisch. Für mich sind das A und O die zehn Gebote und- meine Familie. Wenn der Herrgott mit mir zufrieden ist, verläuft mein Leben schön langsam und leise, so wie es gut für mich ist. Wenn er unzufrieden ist, dann zeigt er es mir auf irgendeine Art und Weise. Ich gehe in den Tempel, weil mein Mann dort im Chor singt. Mein Mann ist sehr bekannt, er arbeitet schon seit Jahrzehnten in der Gemeinde mit, er gründete 1989 das 'Jüdische Institut für Erwachsenenbildung', und ich helfe ihm gern bei der Arbeit für das Institut. Es ist ein Institut für Nichtjuden, die über Judentum etwas wissen wollen. Es gibt dort sehr viele Veranstaltungen und man kann Hebräisch und Jiddisch lernen.

Ich habe ein Buch über mein Leben geschrieben, das unter dem Titel 'Und ich fand es herrlich. Erinnerungen einer Vertriebenen', 2001 im Czernin Verlag erschien. Es ist ein absolut positives Buch. Viele, die das Buch gelesen haben sagen, ich hätte doch viel mitgemacht, aber ich empfand das nicht so. Ich hatte zu 90 Prozent meine Mutter bei mir und wenn sie nicht bei mir war, war es auch wirklich nicht gut. Ich wuchs nicht mit dem Schönsten, Besten und Neuestem auf. Wenn mein Magen voll war, war es egal, ob der voll war mit einem Steak und mit einem Stück Brot. Noch heute esse ich gerne ein Stück trockenes Brot und trinke dazu eine ganz gewöhnliche Tasse Tee, das ist für mich etwas Herrliches. Und so sehe ich das Ganze.
Location

Vienna
Austria

Interview
Erika Rosenkranz