Tag #115459 - Interview #83047 (Georg Wozasek)

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Wie und wo meine Eltern sich kennen gelernt haben, weiß ich nicht. Sie haben 1923 in Amstetten geheiratet, und ich wurde am 27. Juni 1925 in Wien, im 9. Bezirk, in der Pelikangasse 15, das war das Sanatorium Löw, geboren. Wir haben in Amstetten in dem Haus in der Wiener Straße gewohnt, das meinem Großvater gehört hatte. Es war ein schönes Haus mit einem großen Garten. Wir hatten ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Speisezimmer, ein Herrenzimmer und ein Kinderzimmer. Und wir hatten ein richtiges Badezimmer mit warmem Wasser. Im Garten wuchsen viele Blumen, auch ein Gartenhaus mit einer Rosenhecke gab es. Wir hatten auch Tiere, einen Dackel und Katzen, Wellensittiche und Frösche in einem Glas, das im Zimmer stand. Einmal haben wir beobachtet, wie die Katzen mit ihren Pfoten die Frösche aus dem Glas herausgeangelt und gefressen haben. Mein Onkel Rudolf, der ja allein stehend war, hat auch in dem Haus gewohnt. Das Haus war zwar einstöckig, aber es waren zwei große Wohnungen darin. Neben uns wohnte ein Fleischauer, der ein Cousin vom Dollfuß [10] war. Der Bäckermeister Exel hat wunderbare Kipferln gemacht. Die Nachfolger vom Geschäft gibt es noch in Amstetten.

In einem Kindergarten war ich nicht. Als ich klein war hatte ich ein österreichisches Kindermädchen, aber auch meine Mutter hat sich liebevoll um mich gekümmert. Mein Kindermädchen hat gemeinsam mit mir in meinem Zimmer geschlafen. Sie hatte zur jüdischen Familie Greger, die am Hauptplatz ein Kleidergeschäft besaßen, einen guten Kontakt, und sie ist oft mit mir dorthin zu Besuch gegangen. Ein Großteil der Familie Greger ist im Holocaust ermordet worden.
Ich bin in die erste Klasse Volksschule in die Schulstrasse gekommen, die 200 Meter von unserem Haus entfernt war. Das war eine ganz normale Schule. Ab meinem sechsten Lebensjahr hatte ich, ich glaube zweimal in der Woche, zu Hause Violinenunterricht. Ich sollte täglich üben, das habe ich nicht gern getan. Immerhin wurde ich Mitglied im Amstettner Jugendorchester. Wir sind auch öffentlich aufgetreten und haben Konzerte gegeben. Das hat mir gut gefallen. Aber seit Hitler in Österreich einmarschiert war, habe ich keine Violine mehr angefasst.
Mein Vater verließ an den Wochentagen morgens, nach dem Frühstück, das Haus und ging in die Firma, kam dann zum Mittagessen nach Haus und ging nach dem Mittagessen wieder in die Firma. Beim Essen habe ich meinen Eltern erzählt, welche Noten ich in der Schule bekommen hab.

Da mein Vater gut verdient hat, haben wir einigermaßen im Luxus leben können. Unsere Wohnung war schön eingerichtet, und meine Mutter hatte zwei bis drei Angestellte im Haus, wir besaßen ein Auto, fuhren oft nach Wien und regelmäßig in den Urlaub. Zu Hause hatten wir selten Besuche, meine Mutter ist, was ihr gesellschaftliches Leben betraf, oft zu ihren Verwandten und Freunden(innen) nach Wien gefahren. Sie hatte nach ihrer Schulzeit und vor ihrer Heirat teilweise in Wien gelebt. Meine Mutter ist oft nach Wien gefahren um Kleider zu kaufen und in die Oper zu gehen. Wenn sie in Wien war, hat sich das Kindermädchen um mich gekümmert. Wenn ich mit meiner Mutter oder mit meinen Eltern zusammen in Wien war, haben wir entweder bei meiner Tante Lilli oder in der Wohnung meiner Grosseltern Mahler geschlafen, die sie in der Nähe vom Margaretenplatz besaßen. Auch in den Schulferien war ich oft in Wien bei meiner Tante Lilli. Als ich elf, zwölf Jahre alt war, bin ich öfter mit meinen Eltern und mit meiner Tante in Wien in die Oper gegangen, zum Beispiel habe ich ‚Die Zauberflöte’ und ‚Die Entführung aus dem Serail’ gesehen. Aber auch ins Kino sind wir gegangen. Meine Eltern waren sehr integriert in die Gesellschaft, sie fühlten sich selbstverständlich als echte Österreicher. Das sieht man auch an den wenigen Fotos, die ich aus dieser Zeit besitze - meine Mutter und meine Tanten haben Dirndln getragen. Engeren Kontakt mit den nichtjüdischen Nachbarn hatten wir nicht, aber wir haben uns immer freundlich gegrüßt. Befreundet waren meine Eltern aber hauptsächlich mit Juden. Einer hieß Finka. Der Mann war Lederfabrikant und hat Häute bei meinem Vater gekauft. Und meine Mutter war mit Alexander Kohn befreundet, der auch im Ledergeschäft war und dann, wie wir, nach Amerika geflüchtet ist.

In den Ferien war ich auch bei meiner Cousine Sylvia und meinen Cousin Gerhard zu Besuch, die in Wieselburg und in Wien gelebt haben und ungefähr in meinem Alter waren. Sylvie ist ein halbes Jahr älter, und Gerald ist drei Jahre jünger als ich. Und im Sommer durfte ich auch zur Fellhäuteübernahme mitfahren. Ich bin neben unserem Chauffeur Illia, der sich zum Judentum bekannte, gesessen und durfte das Auto sogar steuern. Im Betrieb durfte ich die Felle sortieren. Das habe ich sehr gern getan, es hat mich wirklich interessiert. 

Wir waren eine sehr sportliche Familie. Meine Mutter und mein Vater sind im Winter Schi gefahren, und als ich etwas älter war, sind wir an Wochenenden und Feiertagen immer in den Bergen gewesen. Im Sommer war ich mit meiner Mutter oder später mit meinen Freunden jeden Tag im Amstettener Schwimmbad, am Sonntag ist auch mein Vater mitgekommen.

Eine Synagoge gab es nicht in Amstetten. Im Alter von sechs oder sieben Jahren bin ich mit meinen Eltern zu den hohen Feiertagen [11] in die Betstube mitgegangen. Ich glaube, es waren vielleicht 20 Juden in dieser Betstube. Ich habe nicht viel mitbekommen. Ab der ersten Klasse Volksschule hatte ich zu Hause aber privaten Religionsunterricht, weil es zu wenige jüdische Kinder in Amstetten gab, um sie in der Schule unterrichten zu können. Ich erinnere mich an den Heinrich Fiala, der war zwei oder drei Jahre älter als ich, und an den Ludwig Surkin, der war viel älter als ich. Das ist jetzt in Linz genauso: es gibt nur wenige jüdische Kinder, und wir müssen extra einen Lehrer für sie nach Linz holen. Mein Lehrer war ein orthodoxer Mann, schwarz gekleidet, mit einem Bart. Er hieß Salomon Fried und war sehr nett. Ich glaube, er kam aus Scheibbs und war der Vorbeter in Amstetten. Mein Cousin Gerhard hat gesagt, dass er in Wieselburg von einem Salomon Fried unterrichtet wurde. Ich glaube, das wird derselbe gewesen sein. Ich bin sehr unwillig in die Religionsstunden gegangen, denn für mich war das eine fremde Welt. Mir hat das nicht gefallen, denn ich habe mich sehr integriert gefühlt mit den anderen Kindern in Amstetten, die ja christlich orientiert waren, und ich wäre lieber mit den anderen Kindern in den christlichen Religionsunterricht gegangen. Bei dem Lehrer Fried habe ich das Schma Jisrael [12] gelernt, ich habe gelernt, Hebräisch zu lesen, ohne zu verstehen, was ich lese, jüdische Geschichte und, bevor ich 13 Jahre alt wurde, Tefillin [13] anzulegen. Meine Bar Mitzvah [14] sollte in Amstetten stattfinden, aber dazu ist es nicht mehr gekommen, die Deutschen sind vorher einmarschiert. Ich glaube, Salomon Fried wurde im Holocaust ermordet.

Ich war ein guter Schüler, ambitioniert und bemüht, mit Vorzug durch die Schuljahre zu kommen. Das ist mit der heutigen Zeit nicht zu vergleichen. Aber auf der Realschule gab es einen Lehrer, das war der Professor Lang, der war ein ausgesprochener Antisemit, der hatte mich fühlen lassen, dass er die Juden nicht mag, denn er hat sich negativ über die Juden geäußert. Das habe ich meinen Eltern erzählt, und mein Vater ist dann zum Direktor der Schule in Waidhofen gefahren und hat darum gebeten, dass der Professor Lang damit aufhört. Daraufhin hat er zurückgesteckt, und ich bin mit guten Noten durch das Schuljahr gekommen. Mit den Kindern hatte ich keine Schwierigkeiten, da hatte ich viele Freunde. Wir sind jeden Morgen um 6 in der Früh zusammen mit dem Zug nach Waidhofen in die Schule gefahren, da waren wir eine Stunde unterwegs in der Eisenbahn, in Waidhofen sind wir ausgestiegen, und da hat es auch noch einmal eine halbe Stunde gedauert bis wir in der Schule waren. Wenn mich irgendjemand angegriffen hat, habe ich mich gewehrt. Ein Klassenkamerad hat zu mir gesagt Saujud, mit dem hab ich dann eben gerauft. Ich hab mich schon gewehrt. Aber eigentlich habe ich kaum so etwas erlebt, und die Beziehungen zu meinen Klassenkameraden haben sich durch die gemeinsame Zugfahrt vertieft.
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Interview
Georg Wozasek