Tag #115838 - Interview #78542 (Edith Landesmann)

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Die Sommer verbrachten wir, so lange ich noch nicht zur Schule ging, in Bilowize, einem Dorf zwei Bahnstationen von Brünn und nicht weit von Vaters Fabrik. Wir übersiedelten mit dem ganzen Hausrat, Kindermädchen und Hund schon im Mai, und kamen erst im Oktober nach Brünn zurück., Die Schulkinder - mit uns übersiedelten noch mindestens acht andere jüdische Familien in dasselbe Dorf, um dort den Sommer zu verbringen - fuhren täglich in Begleitung eines Erwachsenen nach Brünn in die Schule. Ich war die Kleinste und blieb mit den Dorfkindern zurück. Es war für uns ein Paradies! Im Dorf war ein Bach mit einem Wehr, an heißen Tagen konnten wir stundenlang im Wasser planschen. Die Eltern gingen kegeln, wir durften alle Neune wieder aufstellen. Wir machten auch schöne Ausflüge in die Umgebung mit der ganzen Gesellschaft, und wenn ich müde wurde, trug mich mein Vater auf den Schultern und sang. Er hatte einen guten Bariton und verdiente sich in seiner Jugend etwas Geld als Chorist und Statist am Theater. Da machte er auch die Bekanntschaft von Leo Slezak und Maria Jeritza, damals die bedeutendsten Opernstars. Ich liebte es wenn er sang: "Gold und Silber hab ich gern...." und  „Der Mann mit dem Koks ist da!“

Meine Cousine Else, die in Teplitz wohnte, kam meistens über den Sommer zu uns, und sie war eine gute Spielkameradin. Wir hatten von irgendwo Kostüme und spielten "Umziehen", manchmal auch Theater. Ich tanzte gerne und meinte, ich wäre eine Märchenfee. Da bekam ich den Namen Zizifee, und da ich die Kleinste war, wurde ich auch Nuninko genannt, Goldinko und viele andere Kosenamen. Ich brauchte lange Zeit um durchzusetzen, dass man mich nur bei meinem richtigen Namen rufe. Wir brieten Kartoffel auf dem Feld und sprangen dann über die Glut. Mein Schmerz war, ich konnte nicht barfuss über die Stoppelfelder laufen wie die Dorfkinder.

Als ich neun Jahre alt war, entschlossen sich meine Eltern, uns das erste Mal ins Ausland zu nehmen. Wir mieteten eine Pension in Portorosa an der adriatischen Küste Italiens. Schon die lange Bahnfahrt mit dem Nachtzug war ein Erlebnis! Wir hatten natürlich keinen Schlafwagen, wie es heute selbstverständlich wäre, wir schliefen auf den Bänken des 2. Klasse Abteils. In unserem Hotel gab es Tanznachmittage für Kinder. Wir lernten Walzer, Tango, Menuette und Rondo! Mir gefiel das sehr gut, doch mein Bruder litt! Oft mieteten mein Bruder und ich ein Ruderboot und fuhren weit hinaus aufs Meer. Meine Mutter, eine begeisterte Nichtschwimmerin, musste dann den Schwimmmeister bitten, uns zurückzuholen. Als ich dann in die Schule kam, fuhren wir nicht mehr nach Bilowitz, sondern jedes Jahr woanders hin, aber immer mit großer Gesellschaft und vielen Kindern. Ich erinnere mich an Radeshin. Wir wohnten direkt am See, in dem ich schwimmen lernte. Alle anderen Kinder konnten schon frei schwimmen, so machte ich "als ob" und während ich oben die Tempi machte, behielt ich einen Fuß am Boden. Einen anderen Sommer verbrachten wir in Dukovany- heute ist dort ein Atomkraftwerk - wir wurden vom Schlossherrn als zahlende Gäste eingeladen, natürlich wieder mit der ganzen Gesellschaft. Wir waren mindestens zehn Kinder in allen Altersklassen, ich wieder die Jüngste. Die Väter kamen immer nur zum Wochenende, da mussten wir ihnen auch alles erzählen, was sich in der Woche zugetragen hatte.
Period
Interview
Edith Landesmann