Tag #117952 - Interview #78532 (Franziska Smolka)

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Als Eva in die Mittelschule kam, sagte sie, dass sie auf keinen Fall mehr in den Religionsunterricht gehe. Und da erfuhren wir, dass sie als Kinder zweiter Kategorie behandelt wurden. Es wurde zum Beispiel gesagt: ‚Was seit ihr doch für arme Kinder, dass eure Eltern keine Christen sind.’ Und die Damen in Mauer haben sich darum bemüht, zu erreichen unsere Kinder zur Taufe zu bringen. Sie wurden zum Beispiel zur Kommunion eingeladen, aber wir haben dankend abgelehnt. Da hat primär mein Mann beschlossen, der Kultusgemeinde beizutreten.

Ich war gar nicht sicher, ob ich die Berechtigung hätte aufgenommenen zu werden. Ich hab einfach zu wenig davon gewusst. Ich war aus einer jüdischen Familie, aber ich wusste nicht, dass ich jüdisch bin. Für mich war damals noch Judentum reine Religion. Als mein Mann zur israelitischen Kultusgemeinde ging, um uns einzuschreiben, sagte ich: ‚ Entweder sie akzeptieren mich so wie ich bin, oder ich gehe dort nicht hin.’ Ich hatte den Wunsch, aufgenommenen zu werden, dazuzugehören, aber ich hatte Angst, wie so oft in meinem Leben, weggestoßen zu werden oder als Außenseiter dazustehen. Die Kultusgemeinde stellte keine Bedingungen, und ich war sehr froh. Mein Mann versprach dem Oberrabbiner, das war noch der Vater vom heutigen Oberrabbiner, dass wir die Kinder in Religion unterweisen. Von da an kam jeden Dienstagabend Mendi Moshkowitz, ein junger Mann mit Bart, der leider letztes Jahr gestorben ist, zu uns. Wir haben von sieben Uhr abends bis elf Uhr mit ihm gelernt. Es war religiöse Familientherapie. Jeder hat die Fragen gestellt, die ihn interessiert haben. Wir saßen beinander und lasen gemeinsam den Tanach, die Bibel. Nicht Wort für Wort und nicht Absatz für Absatz, er hat immer die wichtigsten Dingen herausgenommen. Wir haben mit Sprüngen den gesamten Tanach gelesen und dazwischen kamen natürlich alle möglichen Fragen, nicht nur den Tanach betreffend, sondern was für uns von Interesse war. Zum Beispiel eine israelische Mannschaft hat Basketball gespielt, darüber hätte Stefan etwas wissen wollen, mich interessierten jüdische Feiertage und mein Mann stellte irgendwelche medizinisch relevanten Fragen. Er hat damals schon Brit Mila [25] bei den Kindern gemacht. Das hatte er vom Dr. Stern gelernt, der damals schon alt war und nicht mehr praktizierte, so dass viele Beschneidungen, die nicht vom Mohel [Beschneider] gemacht wurden, von meinem Mann gemacht wurden. Eva, unsere Tochter, wusste literarische, historische und philosophische Fragen zu stellen. So dauerte unser Religionsunterricht, der üblicherweise um sieben begann, meistens bis elf Uhr. Das war jede Woche wirklich ein heiliger Dienstagabend, es war wunderschön. Heilig, im Sinne von für jeden von uns sehr wichtig.
Ich habe zu unserem Lehrer gesagt, wenn er von mir verlangt, dass ich hebräisch lesen lerne, dann sag ich gleich, dass ich sofort aufhöre. Ich glaube, ich hatte noch immer das Gefühl, ich pass schon wieder nicht dazu. Ich muss schon wieder etwas machen, damit ich akzeptiert werde.
Dann kam Chanukka [26]. Und ich habe ihm gesagt, er soll mir die Bracha für die Chanukkalichter transkribiert aufschreiben. Da hat er gesagt, das macht er nicht. Ich hab gefragt, warum er das nicht macht? Daraufhin sagte er: ‚Wenn Sie wollen, sag ich es ihnen, und sie können sich das aufschreiben, aber ich schreib das nicht! Ich schreibe es Ihnen hebräisch auf, wenn Sie wollen, aber transkribiert nicht.’ Er schrieb es hebräisch auf, und ich habe es drunter transkribiert. Und so begannen wir langsam hebräisch zu lernen.
Interview
Franziska Smolka