Tag #118864 - Interview #78302 (Hannah Fischer)

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Ich bin in einem nichtjüdischen Bezirk aufgewachsen. Wahrscheinlich war der Antisemitismus deshalb besonders stark spürbar. Wir hatten es sehr lustig damals, aber wir waren natürlich von klein auf mit Antisemitismus konfrontiert. Aber wir haben uns gewehrt. Mein Bruder war gut mit den Fäusten - sehr geachtet ob seiner Schlagkraft - und wenn nötig, habe auch ich mich ins Getümmel geworfen.

'Sich wehren' führt meiner Ansicht nach dazu, dass man - nach dem Sprichwort: 'Was mich nicht umbringt, macht mich stark' - an Durchsetzungskraft fürs Leben gewinnt. Wir haben die Hetze gegen die Juden nicht so arg empfunden, weil das von Anfang an einfach zu unserem Leben gehört hat. Sprüche wie 'Jud, Jud, spuck in Hut, sag der Mutter, das war gut!' sind uns oft nachgerufen worden.

Wir hatten auch gute Freunde, die zu uns hielten, aber es gab eben in der Umgebung auch eine Menge Nazi-Familien. Zum Beispiel waren die Hausbesitzer, die Familie Schindler, illegale Nazis.

Der Mann, ein Architekt, war gestorben und Frau Schindler hatte drei Söhne und eine Tochter. Die Tochter war schon verheiratet, Hermann, der jüngste Sohn war in unserem Alter. Wenn er gerade niemand Besseren hatte, spielte er mit uns. Aber immer, wenn er andere zum Spielen hatte, die auf uns schimpften, schimpfte er mit ihnen gemeinsam.

Er ist mit einem Kopfschuss aus Russland zurückgekommen und ging dann an Alkohol zu Grunde. Der älteste Sohn war ein illegaler Nazi. Er hatte Medizin studiert, war Arzt, und ist aus dem Krieg nicht zurückgekommen. Max, der Mittlere, war damals 16 Jahre alt, war auch schon ein illegaler Nazi und kam 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen, sofort mit der SA- Uniform daher, am ersten Tag schon.

Im Jahre 1988 sollte ich für das Pädagogische Institut einen Artikel über meine Jugend in Wien schreiben. Da ging ich zu dem Haus in die Biraghigasse. Ich wollte mich in die Stimmung von damals versetzen. Max wohnte noch in der Wohnung seiner Eltern.

Er war sehr freundlich zu mir und anscheinend sehr erfreut mich zusehen. 'Wie geht es Ihnen? Ich erinnere mich noch genau an Ihre Mutter; die hat immer fleißig mit der Schreibmaschine geklappert und der Vater, der ist in der Früh gleich mit Sonnenaufgang in den Garten hinübergegangen.

So fleißige, ordentliche Leute waren das!' Mir wurde ganz übel. Dann hat er sich bei mir beklagt, wie schlecht es ihm geht. Und dann hat er gefragt, was ich mache? Ich habe ihm erzählt, dass ich Direktorin der Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik in Floridsdorf bin. 'Ich habe ja immer gewusst, dass in dieser jüdischen Familie lauter tüchtige Leute sind.

Was macht denn der Bruder?' Ich habe erzählt, dass mein Bruder Direktor einer technischen Firma in Nordamerika ist. 'Na ja' hat er gesagt, 'die Juden bringen's´s halt doch zu etwas.' Ich habe nichts gesagt, hab ihn reden lassen. Als ich mich verabschiedete, dachte ich: Geschieht ihm recht, obwohl er wirklich ein armer Mensch war.
Interview
Hannah Fischer