Tag #119452 - Interview #78292 (Oskar Rosenstrauch)

Selected text
Ich kenne viele Juden in Wien, die nicht zum Judentum zurückgekehrt sind. Ich bin überzeugt, die Nicht-Gemeindemitglieder würden der jüdischen Gemeinde näher kommen, wenn sie das Gefühl hätten, dass sie gerne aufgenommen werden würden. Es gibt sogar Juden, die ich kenne, die das Gefühl haben, sie werden im Tempel nicht gerne gesehen. Ich glaube, Judentum wird zu sehr verbunden mit der Religion. Es gab in den 1920er, 1930er-Jahren, als der Klerus aktiv reaktionär war, in der Sozialistischen Partei die Bewegung der Freidenker, die sich von der Religion entfernt hatte. Nachdem sehr viele Juden in der Sozialistischen Partei aktiv tätig waren, als Kassiere, als Sektionsmitglieder, sind sie auch in diese Freidenkerbewegung mit einbezogen worden. Es gibt also eine große Tradition von nicht religiösen Juden, die heute alt geworden sind: dazu gehören diese Leute. Dabei bin ich überzeugt, dass 50 Prozent der Juden in Amerika, nicht in die Synagoge gehen. Aber kann man so großzügig sagen, wir brauchen sie nicht? Wer kann sich das erlauben? Marcel Prawy [30] war Jude, aber zu seinem Begräbnis, er bekam ein Ehrengrab der Stadt Wien am 1. Tor des Zentralfriedhofs, kam der Rabbiner nicht, kam auch der Kantor nicht. Das 1. Tor gehört nicht zum jüdischen Friedhof und so ist von der jüdischen Gemeinde niemand gekommen. Prawy wurde vom Kardinal König [31] mit 'Schalom' [hebr. Frieden] begraben. In Ehrengräbern der Stadt Wien gibt es Dutzende Juden, die dank ihrer Verdienste dort liegen, aber von der jüdischen Gemeinde werden sie nicht anerkannt, weil sie nicht am jüdischen Friedhof begraben sind. Das sind Probleme, die existent sind und die tausend Wiener Juden spüren, die nicht von selbst die Initiative ergreifen, der jüdischen Gemeinde beizutreten oder in den Tempel zu gehen.
Interview
Oskar Rosenstrauch