Tag #119487 - Interview #78281 (Max Tauber)

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Der Militärdienst hat sieben Jahre gedauert. Mein Urgroßvater muss damals zwanzig Jahre alt gewesen sein, und wäre bald militärpflichtig geworden. Da ist er praktisch geflüchtet mit seiner Frau, die damals 18 Jahre alt war.

Meine Großmutter Anna Müller wurde auf dieser Flucht zwischen 1860 und 1870 in Weikendorf, im Marchfeld, dem östlichsten Teil von Niederösterreich, der direkt an die Slowakei grenzt und in der Nähe von Gänserndorf liegt, geboren. Dort haben sie Unterkunft bei einem Bauern gefunden, der ihnen ein Kammerl zur Verfügung stellte. In Gänserndorf befindet sich seit 1907 am Ortseingang ein jüdischer Friedhof. Auf diesem Friedhof liegen bestimmt meine Urgroßeltern und viele meiner Verwandten, die vor dem Holocaust gestorben sind.

Mein Urgroßvater und meine Urgroßmutter haben nichts besessen, nur ihr erstes Kind, meine Großmutter Anna. Der Urgroßvater ist sofort zu den Bauern in der Umgebung gegangen und hat sie gefragt, ob sie etwas brauchen - Bettzeug, Töpfe, Schürzenstoff oder sonst irgendetwas - er fahre nach Wien und besorge alles. Das hat er so gemacht im ganzen Marchfeld. Er wurde der berühmte Pinkeljud aus Weikendorf. Er war ein großer, starker Mann, und er hatte auch wirklich ein riesengroßes grünes Einbindtuch, und darin hat er alles, was er gekauft hat, auf dem Buckel getragen. So ist er hin und her gependelt, ständig durch das ganze Marchfeld gewandert und hat Aufträge entgegen genommen. Alles, was jemand gewollt hat, hat er beschafft. Wenn ein Bauer ein Gerät gebraucht hat, hat er es ihm beschafft. Er hat den Bauern Kredit gegeben, aber er hat keine richtige Buchhaltung gehabt. Er schrieb mit Kreide in hebräischen Buchstaben sein Soll und Haben auf die Stalltüren der Bauern. Einmal gab es in einem Dorf einen Aufruhr unter den Bauern. Was war passiert? Die Bauern sind zum Pfarrer gelaufen und haben ihm gesagt: Herr Pfarrer, schau dir das an, der Jud da, der macht so Teufelszeichen auf unserer Ställe, das ist ein Fluch!' Zum Glück war der Pfarrer Jesuit und hat von Hebräisch eine Ahnung gehabt. Er hat sich das angeschaut, die Leute beruhigt und gesagt, mein Urgroßvater sei ein braver, religiöser Mann und ihnen dann erklärt, das sei nichts anderes als die Buchhaltung meines Urgroßvaters. Das war alles, sonst hat es nie eine Klage gegeben, die ganzen Jahre nicht. Nach zehn Jahren hat er sich das schönste Haus in Weikendorf mit einem riesigen Obstgarten bauen lassen. Meine Großmutter Anna bekam noch zwei Brüder, Adolf und Hermann, eine Schwester Tini und die jüngste Schwester war die Rosa [Sali].
Period
Location

Austria

Interview
Max Tauber