Tag #119572 - Interview #78281 (Max Tauber)

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Alle Leute, die sich politisch verdächtig gemacht hatten, sind in das erste österreichische Konzentrationslager nach Wöllersdorf gekommen. Das war aber nichts anderes als ein Gefängnis, es war nicht zu vergleichen mit den deutschen Konzentrationslagern.

Mein Vater ist untergetaucht. Zuerst war er bei seinem Bruder und hat versucht, irgendwie ins Ausland zu kommen. Er ist in der Nacht nach Haus gekommen und sehr zeitlich wieder gegangen, aber es kam niemand mehr. Seine Partei hatte Kontakt zur Sowjetunion, aber da war zum Glück nach Februar 1934 eine Einreisesperre. Die haben nur die ersten Schutzbündler [21], die am 12. Februar nach Bratislava geflüchtet waren, aufgenommen. Die sind dann in die Sowjetunion emigriert, es sind aber nur wenige zurückgekommen, viele wurden dort ermordet. Mein Vater ist dann aufs Palästinaamt [22] gegangen, das war eine private Organisation, und konnte Kontakt mit einem Fabrikanten, der in Jerusalem eine Schuhfabrik gegründet hatte, aufnehmen. Dieser Fabrikant besaß auch in Mödling eine große Schuhfabrik, Brüder Klein haben die geheißen, die mussten durch die Wirtschaftskrise ihren Betrieb liquidieren. Der jüngste der Brüder Klein hat in Jerusalem mit zwei Leuten zusammen eine Fabrik am Stadtrand von Jerusalem gegründet, die haben sich 'Die Schuhe unseres Landes' genannt. Ein Betriebsleiter, der David, ist nach Wien gekommen und hat Leute für die Fabrik gesucht. Man hat für Palästina ein Kapitalistenzertifikat [23] gebraucht, das heißt, man musste bei einer Bank 1000 englische Pfund deponieren, und damit hat man die Einreise bekommen. Mein Vater hatte keine 1000 Groschen in seinem Besitz, geschweige denn 1000 Pfund, aber der Herr David hat ihn für die Schuhfabrik ausgesucht, und so bekam er das Zertifikat zur Einreise nach Palästina. Wie mein Vater das Geld für die Reise zusammengekratzt hat, weiß ich nicht.

Ich kann mich erinnern, es war an einem Sonntag im November des Jahres 1934. Mein Vater wusste, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis er sein Zertifikat nach Palästina bekommen wird, und er ist zuerst zum Onkel Hermann gefahren. Kurz nachdem mein Vater zum Onkel Hermann unterwegs war, kam die Verständigung, dass sein Zertifikat nach Palästina bewilligt ist und er in nächster Zeit abreisen kann. Damals ist nämlich die Post auch am Sonntag zugestellt worden. Meine Mutter sagte, dass ich dem Vater nachfahren soll um ihm die Nachricht zu bringen. Ich bin sofort vom Nordbahnhof mit dem nächsten Zug nach Gänserndorf und von Gänserndorf nach Dörflitz gefahren. Da war ich dann dabei, als der Onkel Hermann zu meinem Vater gesagt hat, dass er bereits seinen Besitz übergeben hat, aber er hatte noch zwanzig Zigaretten aus dem 1. Weltkrieg, die hat er meinem Vater geschenkt und, ich glaube dazu noch fünf Schilling. Von dort sind wir nach Tallisbrunn zum Onkel Adolf gegangen, und mein Vater hat zu ihm gesagt: 'Du und der Onkel Hermann habt vor langer Zeit versprochen, dass ihr euch um mich und meinen Bruder kümmern werdet, und jetzt brauch ich jeden Groschen. Da hat der Onkel Adolf zum Weinen angefangen und hat gesagt: 'Was soll ich machen, ich habe schon meinen ganzen Besitz übergeben, ich habe gar nichts.' Er hat meinem Vater die Hand gedrückt, ihn gesegnet, und wir sind wieder nach Haus nach Wien gefahren.

Im Oktober 1934 starb meine Großmutter und im Dezember 1934 ist mein Vater mit dem Zug nach Triest gefahren und von Triest mit dem Schiff nach Palästina. Wir haben uns von meinem Papa verabschiedet, und wir wussten nicht, wann wir uns wieder sehen. Das war furchtbar traurig. Meine Mutter blieb zurück mit drei halbwüchsigen Kindern und ohne Einkommen. Sie hat tagelang geweint.
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Interview
Max Tauber
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