Tag #119580 - Interview #78281 (Max Tauber)

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Es war das Jahr 1935, mein Vater war schon seit November 1934 weg. Schuschnigg hatte für Leute die mittellos waren, ein Winterhilfswerk eingeführt. Beim Magistrat gab es das Armen Amt. Von denen bekam man einen Gutschein über 25 Schilling und mit dem konnte man einkaufen. Auch manche Greissler haben diese Gutscheine genommen. Fast jede Woche gingen zwei Briefe hin und her, von Wien nach Jerusalem und von Jerusalem nach Wien. Meine Eltern haben sich sehr geliebt. Auch meine Schwestern und ich haben meinem Vater geschrieben. Meine Mutter wurde aber im Laufe der Zeit sehr ungeduldig. Einmal hat mein Vater geschrieben, er verdiene nicht schlecht in der Fabrik, und er habe jetzt einen Antrag gestellt, dass er einen Kredit bekomme, und damit wolle er unsere Reise finanzieren. Meine Mutter hat aber die Geduld verloren und ging los, um Geld für vier Personen für die Reise nach Palästina aufzutreiben. Das war nicht leicht! Zu dieser Zeit gab es einen christlich-sozialen Vizebürgermeister, er hieß Ernst Karl Winter [24], und zu dem ist sie gegangen. Meine Mutter hat ihm geschildert, dass ihr Mann flüchten musste und sie nun mit drei halbwüchsigen Kindern ohne Mann in Wien allein sei und unbedingt zu ihrem Mann wolle, aber dazu fehle ihr das nötige Geld. Sie habe sich bereits erkundigt, sie brauche - für damalige Begriffe - 1000 Schilling. Er hat sich das angehört und hat dann gesagt: 'Hören Sie zu, ich verstehe Ihre Lage. Ich weiß, dass Sie sich in einer schwierigen Situation befinden. Ich gebe Ihnen aus meiner Privatschatulle 500 Schilling.' Das war damals ein Vermögen! Meine Mutter hat sich vielmals bedankt. Sie brauchte aber noch mehr Geld, also was tat sie? Sie hat unsere Wohnung verkauft. Für die Wohnung bekam sie 300 Schilling, da hatte sie 800 Schilling. Die Sozialdemokratische Partei war ja zu dieser Zeit illegal, aber es gab eine Organisation, die nannte sich die 'Rote Hilfe'. Das waren eigentlich im Grunde alles arme Teufel, aber sie sammelten Geld für Leute, die durch die politischen Ereignisse dringend eine Unterstützung brauchten. Sie haben die restlichen 200 Schilling meiner Mutter zur Verfügung gestellt. Meine Mutter ist dann mit dem Geld aufs Reisebüro gegangen und hat für uns die Reise gebucht. Wir haben die Wohnung übergeben, und ich bin zum Bruder meines Vaters gezogen. Meine liebe Tante, seine Frau, hat mich behandelt wie einen Bettler. Ich war 15 Jahre alt und habe mit dem Walter in einem Zimmer geschlafen, und sie meinte, ich hätte einen schlechten Einfluss auf ihren Sohn, denn der glaubte noch, der Storch bringe die Kinder. Ich habe den 11jährigen dann aufgeklärt und meine Tante war fürchterlich empört. Meine 14jährige Schwester Grete und meine Mutter wohnten in dieser Zeit bei dem ältesten Bruder meiner Mutter. Die 12jährige Berta war bei einer Freundin meiner Mutter untergebracht, die meine Schwester adoptieren wollte, aber das kam natürlich nicht in Frage. Getroffen haben wir uns in dieser Zeit immer bei meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter.

Palästina

Meine Mutter hat dann aus Sparmaßnahmen meinem Vater nur eine gewöhnliche Postkarte geschrieben, in der sie ihm mitteilte: die Wohnung ist aufgelöst und die Reisespesen sind teilweise gedeckt. Sie hat die Karte meinem Vater geschickt, damit er uns nach unserer Ankunft in Palästina abholen kann. Aber da schickt man doch ein Telegramm, eine gewöhnliche Karte kommt doch erst in drei Wochen an! Mein Vater hatte aber mittlerweile einen Kredit aufgetrieben, damit er unsere Reise finanzieren kann.

Wir reisten ab. Für mich war die Reise sehr lustig. Das Schiff hieß Galilei und war von der Lloyd Triestino [trad. Italienisches Schifffahrtsunternehmen]. Ich war in einer schönen Kabine mit vier Burschen aus Berlin. Meine Mutter und meine Schwestern waren am tiefsten Deck unten, gleich neben der Küche. Wir sind über die Adria gefahren, das Wetter war herrlich, aber kaum hat sich das Schiff ein bisschen bewegt, war ihnen kotzübel. Sie sind die ganze Zeit unten in der Kabine geblieben. Ich saß allein beim Frühstück und der Stewart kam mit dem Tablett und fragte mich, wie viele Personen frühstücken werden? Ich antwortete ihm, dass wir vier Personen sind. Er stellte mir das Tablett hin, eine Kanne mit Kaffee und - also ich habe in meinem Leben noch nie so ein Frühstück gesehen: Toast, Butter, Honig, Schinken und Ei. Ich habe gefressen... Ich habe ja gewusst, die Damen kommen eh nicht. Dann hat der Stewart abgeräumt, und ich bin am Deck spazieren gegangen. Als wir in Brindisi [Italien] ankamen, wurde das Mittagessen serviert. Ich habe geglaubt, ich platze: Steak und Erbsen, also ein Essen, das ich vorher in meinem Leben nie gesehen hatte. Aber dann, zum Abendessen, ist der Stewart draufgekommen, dass ich immer allein am Tisch bin und hat mich gefragt, wo die anderen sind. Aber er hat mir immerhin weiter reichlich Essen gebracht. Diese fünf Tage auf dem Schiff waren für mich der komplette Luxus!

Am 1. August 1935 sind wir in Palästina angekommen. Und jetzt kommt eigentlich der Beginn einer kleinen Tragödie. Wir kamen in Jaffa an. Damals war Jaffa der Immigrantenhafen, da war aber im Prinzip kein Hafen. Die Schiffe haben weit draußen geankert, und man musste mit Landungsboten hineingebracht werden. Bevor das Schiff noch Anker geworfen hatte, war die Pass- und Visumkontrolle. Österreicher waren relativ wenig auf dem Schiff aber viele Deutsche, und die haben meine Mutter gleich vorgelassen. Auf einmal kam meine Mutter Tränen überströmt zu uns Kindern. Der Beamte hatte behauptet, unser Einreisevisum sei gefälscht. 'Um G'ttes Willen, wie gibt es so was?' Da sagte der Beamte: 'Das macht nichts, das Schiff fährt weiter nach Haifa, in Haifa ist ein richtiger Hafen, dort legt es an, und das Schiff bleibt dort 24 Stunden, und da wird man Genaueres feststellen.' Meine Mutter sagte: 'Aber ich war doch auf dem britischen Konsulat in Wien.' Es hat sich herausgestellt, dass das Einreisezertifikat von einem Beamten unterschrieben war, der als korrupt bekannt war. Der Einwanderungsbeamte meinte, das sei kein Problem, man werde telegraphisch feststellen, ob alles in Ordnung wäre. Als nächstes kam noch dazu, dass meine Mutter gesagt hatte, ihr Mann müsse draußen stehen und uns erwarten. Die haben dort dann Moritz Tauber ausgerufen, aber der war nicht da, weil er die Karte von meiner Mutter noch nicht bekommen hatte. Wenn etwas schief geht, dann geht es komplett schief. Wir fuhren also weiter nach Haifa. Wir haben nichts gehabt, überhaupt nichts! Meine Mutter war felsenfest davon überzeugt, mein Vater würde in Jaffa warten und uns empfangen.

Unser ganzes Gepäck war in Jaffa, weil alles Gepäck vom Schiff hinausbefördert worden war. Wir hatten eine riesige Kiste mit aller irdischen Habe: Bettzeug, Geschirr, alles was transportfähig war. Und diese Kiste stand in einem Depot in Jaffa, und wir waren in Haifa. Die jungen Deutschen auf dem Schiff haben für meine Mutter gesammelt und haben uns 1 ¼ Pfund gegeben. In Haifa hatte man mittlerweile festgestellt, dass das Zertifikat echt war, die Unterschrift war falsch, aber die Einreisebewilligung war gültig. Alle, die in Haifa und in Jaffa vom Schiff gehen durften, wurden gegen Typhus geimpft. Uns hatte man nicht geimpft, sie haben gesagt: 'Das werdet ihr dann besorgen, wenn ihr im Land ankommt'. Es war verpflichtend für jeden Einwanderer, sich gegen Typhus impfen zu lassen.

Als wir vom Schiff gingen, ist ein Beamter mit uns gegangen. Meine Mutter und meine Schwestern haben geweint, weil der Papa nicht da war und sie in einer fremden Welt ganz allein dastanden. Ich habe nicht geweint und wurde als gefühlloses Individuum beschimpft. Ich habe mir gedacht: Mein Vater ist nicht weit, was kann schon passieren! Gleich am Hafen ging der Beamte mit uns in ein Hotel und sagte zu dem Hotelier, einem Einheimischen, seine Gattin war aus Polen: 'Hören Sie zu, die Frau mit den drei Kindern sind Neueinwanderer, der Mann wird bald auftauchen, Geld haben sie keines.' Die Frau hat Jiddisch geredet, dadurch konnten wir uns wenigstens verständigen. Es war schon spät am Abend, man hat uns ein Zimmer gegeben, und der Hotelier hat uns einen Tee serviert. Wir hatten vorher am Schiff noch ganz gut gegessen, also war das nicht so tragisch, dass wir nur Tee bekamen.

Am nächsten Tag in der Früh schickte mich meine Mutter aufs nächste Postamt, meinem Vater ein Telegramm nach Jerusalem schicken. Ich ging aufs Postamt, gab das Telegramm auf - es hat acht Piaster gekostet - kam zurück, da schaute meine Mutter auf die Adresse, die ich noch in der Hand hielt und sagte: 'Das ist ja die falsche Adresse, dort wohnt er ja nicht mehr.' Also musste ich noch ein Telegramm schicken, und dann sind nur ein paar Piaster übrig geblieben. Ich bin auf die Straße hinuntergegangen, auf einmal sah ich einen Araber mit Bananen. In Österreich waren Bananen zu der Zeit der größte Luxus, die sind einzeln verkauft worden. Die palästinensische Münze war riesengroß und hatte ein Loch. Ich hatte eine in der Hand - ein oder zwei Piaster waren das. Ich ging zu dem Araber und zeigte ihm die Münze. Der nahm ein Bündel Bananen und gab es mir. Ich dachte, der sei wahnsinnig, was gibt der mir da? Ich blieb stehen und starrte ihn an. Daraufhin sagte er irgendetwas auf Arabisch - ich habe ja kein Wort verstanden - dann gab er mir noch mehr Bananen. Und dann hat er noch irgendwie alle heiligen Mohammedaner angerufen, und hat mir noch vier Bananen gegeben und gesagt, ich soll gehen. Ich bin mit einem Bund Bananen anmarschiert gekommen, und dann haben wir uns mit Bananen ernährt. Erst zwei Tage später ist mein Vater aufgekreuzt. Und jetzt kommt das schönste Theater: Für unsere Reise hatte er einen Kredit aufgenommen und das Geld an meinen Onkel nach Wien geschickt. Mein Onkel hatte das Geld genommen, ein riesiges Paket mit unseren Sachen, die in Wien geblieben waren zusammengestellt und uns nachgeschickt. Meine Mutter hätte gerne auf die Sachen verzichtet, das Geld war pfutsch! Aber wir waren endlich mit meinem Vater zusammen und fuhren nach Jerusalem.
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Max Tauber
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