Die einzigen, die in Wien waren, waren die Eltern meines damaligen Mannes, und sein Bruder. Zuerst haben wir bei den Schwiegereltern gewohnt, und dann hat uns die Partei eine Wohnung zugewiesen. Das war ein Zimmer mit drei Türen und einem Fenster. Ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl standen in dem Zimmer. Das Bett hatte einen Strohsack, nicht einmal eine Matratze. Da haben wir mit dem Kind gehaust.
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Hanny Hieger
Am 22. September 1946, also ein Jahr und ein paar Monate, nachdem der Krieg zu Ende war, kamen wir nach Wien zurück. Meine Familie gab es in Wien nicht mehr.
Bei "Young Austria" habe ich begeistert mitgearbeitet. Da hat es sich dann so langsam entwickelt, daß wir nach Österreich zurückgehen sollten, um mitzuhelfen, daß eine Demokratie entsteht. Das hat sich dann als Trugschluß herausgestellt, es hat in Wirklichkeit kein Mensch geschert, ob die Emigranten zurückkommen, im Gegenteil. Es wäre den Österreichern wahrscheinlich lieber gewesen, wir wären weg geblieben. Ich hab in England Franz Czechmann, einen politischen Emigranten kennen gelernt. Man hat mich ununterbrochen wegen meiner bürgerlichen Herkunft ein bißchen scheel angeschaut, und da hab ich mir gedacht, wenn ich einen Proletarier heirate, dann werde ich zur Proletarierin. Aber das ist ein Irrtum. Wir haben geheiratet und am 22.2.1944 kam unsere Tochter Marion in London zur Welt.
Es war gedacht, daß wir nur kurze Zeit in England bleiben und dann zu den Eltern nach Bolivien gehen. Aber da kam der Krieg dazwischen, und dann war Bolivien abgeschrieben. Meine Eltern wollten zuerst einmal, daß wir nach England gehen und dort eine Schule besuchen, denn Bolivien war ja ein schwarzer Fleck auf der Landkarte. In Bolivien gingen Polizisten zu dieser Zeit noch barfuß, und wenn es ganz kalt war, dann haben sie Autoreifen zerschnitten und sich die als Sohle um die Füße gebunden. Auf der Straße sind die Indios gesessen und haben ihre Kinder gelaust und die Läuse aufgefressen. Das kann man sich wirklich nicht vorstellen. Bolivien und Kolumbien ist eigentlich erst durch die Emigranten aufgeblüht.
Mein Bruder schrieb am 8. März 1942 in einem Brief an meine Eltern, in dem Brief lag ein Foto auf dem unsere Tante Kitty, ich und mein Bruder zu sehen sind: "Liebe Eltern! Dieser Brief gilt der Mama zum Muttertag. Also alles, alles Gute, Mama! Es folgen noch mehr Bilder. Ich hab gute Nachrichten für euch. Mein Chef hat mir nach Ablauf der Probezeit vorige Woche gesagt, daß er mich anstellen will und das ich ein Pfund per Woche bekomme. Die Arbeit freut mich sehr. Mein Bruder hat eine Lehre und Anstellung als Grafiker bekommen. Er zeichnet und schreibt sehr gut, ist sehr talentiert. "Ich schreib euch noch mehr ausführlich in einem anderen folgenden Brief. Ihr könnt am Bild sehen, wie ich gewachsen bin. Ich hab beim Fotografieren nicht gemogelt und mich auf die Zehenspitzen gestellt. Im Gegenteil, die Füße gespreizt ein wenig. Recht viele Bussi. Fritz." In einem anderen Brief: "Liebe Eltern, danke für euren Brief vom 20.2.1942, den wir vorgestern am 20.3.1942 erhielten. Auch für die zwei Bilder, mit denen wir uns sehr freuten. Also ich arbeite schon seit 3. Feber als Reklamezeichner. Das heißt, ich arbeite, während ich lerne. Ich bekomme ein Pfund per Woche bezahlt. Ganz schön, glaub ich. Die Arbeit freut mich riesig. Mehr darüber in gewöhnlicher Post." Heute Sonntag, waren wir, Erich, Trude, Käthe und ich bei der Matthäus- Passion von Bach im Konzert. Unheimlich schön. Wir sind noch ganz betrunken von der Musik. Ich hab seit gestern eine neue Flöte. Sehr groß, 3/4 m lang. Sie hat 30 Schilling gekostet. Von eigenem Ersparten, aber die Käthe hat was beigesteuert. Meine Kleine, die eine Oktave höher spielt, habe ich der Trude geborgt. Wir haben grad nach Noten das erste Duett gespielt. Sehr klass. Viele Bussi. Fritz."
Mit meinen Eltern hatte ich ab und zu Kontakt und wußte, daß sie sich nach Bolivien gerettet hatten. Mein Vater war Leiter der Wäscherei und hat Indios unter sich gehabt. Damals hat man in den Hotels noch die Wäsche mit der Hand gewaschen.
Dann langsam hab ich Leute kennen gelernt, Österreicher. Und dadurch ist es mir ein bißchen besser gegangen. Dann habe ich Leute vom "Young Austria" kennengelernt und jemand vom Komitee hat gemerkt, daß mit mir irgendwas nicht stimmt. Ich hab dann über Mr. Jones erzählt und kam als Kindermädchen zu einer Familie in den nächsten Ort. Als der Krieg ausbrach, ist der Mann sofort zum Militär gegangen, und die konnten sich kein Kindermädchen mehr leisten. Dann bin ich in ein Jugendheim gekommen und hab schon in Fabriken Uniformen genäht.
Danach setzte mich Alfred in einen Zug zu meiner Gastfamilie. Einen Penny hat er mir noch in die Hand gedrückt. Mein Cousin Alfred war selber ein Emigrant, der hat auch nichts gehabt. Englisch konnte ich fast überhaupt nicht, das war schlimm. Ich hab mich in die Ecke gedrückt und hab die Augen ganz fest zugemacht und hab geweint, in der Hoffnung, daß man mich nicht sieht, wenn ich die Augen zu habe. Das Abteil war voll mit Leuten und sie wollten mir helfen. In Crewe mußte ich auch noch umsteigen. Und kalt war's und geregnet hat's und ich war schrecklich allein. Als ich in Cheadle Hulme ankam, hätte mich mein Ziehvater, ein Mr. Jones, ein Universitätsprofessor, abholen sollen. Da hat so ein Gaslampe gebrannt und alles war finster und es hat geregnet. Das Einzige, was ich hatte, war ein Zettel, da stand drauf: Mr. Jones, Cheadle Hulme, nicht einmal eine Adresse. Ein Bahnhofsbeamter hat sich der ans Telefon gesetzt und hat alle Jones's angerufen, und Jones ist kein seltener Name. Endlich hat er den Richtigen gefunden, der gesagt hat, ja, wir erwarten ein Refugee-Kind. Die Mrs. Jones hat ein bißchen Deutsch gesprochen. Bei der Familie Jones mußte ich arbeiten, die dachten, ich bin ein Dienstmädchen. Aber ich war noch zu jung für ein Dienstmädchen. Ich habe aber Dienstmädchenarbeit verrichten müssen, das hat mich nicht gestört. Ich hab meiner Mutter geschrieben, sie soll mir bitte das Rezept für Apfelstrudel schicken. Ich hab mich dort durchgesetzt. Mr. Jones hat aber nicht nur gedacht, daß er ein Dienstmädchen kriegt, sondern auch gleich ein jüngeres Spielzeug. Da hab ich jeden Abend alle meine Kraft zusammengenommen und hab das Bett vor die Tür geschoben. Die haben geglaubt, ich mach' das, weil ich Angst hab, daß die Nazis kommen. Ich hab mich aber auch nicht getraut, irgend jemand was zu sagen, weil ich ja Angst hatte, daß die mich dann zurückschicken. Und ich wußte ja auch, wenn ich jetzt zurückgeschickt werde, daß meine Eltern dann nicht weg können. Das war eine ziemlich miese Situation. Bei Mr. Jones hab ich jeden Dienstag Nachmittag frei gehabt. Jede Woche bekam ich nur Sixpence Taschengeld. Die Fahrt nach Manchester hat einen Shilling gekostet. Wenn ich das Auto gewaschen hab, hab ich einen Penny und zwei Briefmarken bekommen. Die Briefmarken hab ich gebraucht, aber wenn ich dann einen Shilling und einen Penny hatte, bin ich nach Manchester gefahren, dort in die Bibliothek gegangen und hab gelesen. Gegenüber am Albert Square war das Quäker Meeting House, dann bin ich da hingegangen, hab einen Tee getrunken und einen Bun gegessen. Danach bin ich spazieren gegangen, hab mir die Geschäfte angeschaut. Das war mein Dienstag, mein freier Nachmittag.
Es gab viele Kinder, die kein Glück hatten und die da in den Hallen gesessen sind. Es war Februar und es war kalt und es war neblig und es war unwirtlich und ungastlich, wie es in England ist. Und die, die schon eine Adresse hatten, wo sie hin konnten, wurden abgeholt. So wurde ich von meinem Cousin Alfred abgeholt. Aber andere Kinder sind einfach dagesessen, und dann sind die Familien gekommen und haben ausgesucht. Das war wie ein Markt. Das war furchtbar. Es war ganz schlimm, mit einer Tafel um den Hals. Da hat einer gesagt: "I take that one. No no no, I take that one." Und Buben wollten sie nicht, sondern eher Mädchen. Und die, die dann übrig geblieben sind, die hat man in irgendwelche Heime gesteckt.
Ich war 16 Jahre alt, aber für die Behörden war ich 15, damit ich noch mit dem Kindertransport der Kultusgemeinde fahren durfte. Am 20. Februar 1939 um 20.00 Uhr mußte ich mit einem Gepäckstück am Westbahnhof sein. Die Abschiedsszenen waren schrecklich. Wir älteren halfen den jüngeren Kindern. In London wurden wir in einer Kirche in der Church Hall empfangen. Ich hatte Glück, weil mein Cousin Alfred mich dort abholte, mit mir in das "Lyons Corner House", einem Treffpunkt der Emigranten ging und mich dort bewirtete. Er hatte eine Familie für mich gefunden.
Meine Mutter hat dann verschiedene Leute, so auch den bolivianischen Konsul, versucht zu bestechen, um irgendein Visum zu bekommen. Sie hat ihm erzählt, daß mein Vater der größte Agrarexperte der Welt ist und die bolivianische Landwirtschaft ohne das Know-how meines Vaters nicht existieren könnte. Ich weiß nicht, ob mein Vater den Unterschied zwischen Gerste und Weizen und Hafer gewußt hätte. Wir sind zwar auf dem Land groß geworden, aber er hat mit der Landwirtschaft herzlich wenig zu tun gehabt. Aber das hat dann funktioniert. Dann ist meine Mutter zur Gestapo am Morzinplatz zum Eichmann oder Hoess gegangen und hat gesagt: "Wenn Sie meinen Mann frei lassen, garantiere ich Ihnen, daß wir innerhalb von kürzester Zeit das Land verlassen. Das war 1939, nachdem mein Bruder und ich nach England emigriert waren. Ich bin im Februar 1939 nach England, mein Bruder ist im März 1939 nach England emigriert. Ich war gerade 16 Jahre alt.
Einmal wurde ich bei der Grünentorgasse von ein paar SS- Leuten gefangen und in die Schule in die Grünentorgasse gebracht. Das war eine SS-Kaserne. Und da mußte ich sauber machen und danach mußte ich "Spiegel", diese Pajetten, die man an der Uniform hat, annähen. Ich weiß nicht, wie lange ich da war, dann hat einer gesagt, ich soll Kohlen aus dem Keller holen und ist mit mir die Treppe runter mit zwei Kohlenkübeln. Ich hab seitdem Angst vor Kellern. Dann ist der mit mir in den Keller gegangen, hat laut geschimpft, hat die Kohlen in die Kübel gefüllt, hat sie bis zur Treppe getragen und dann erst hat er sie mir übergeben. Danach hat er mich nach Haus geschickt.
Als ich die Schule verlassen mußte und meine Mutter beschlossen hat, daß "das Kind was lernen muss, um sich auf die Emigration vorzubereiten", hab ich im Modesalon "Hilda & Loni" eine Schneiderlehre begonnen. Der Salon war Ecke Liechtensteinstraße/Thurngasse. Wir haben im 20. Bezirk gewohnt, und ich bin in der Mittagspause immer nach Haus gegangen.
Zu der Tante Kitty in Wien kam eine Nachbarin und hat gesagt, sie muß die Wohnung räumen, sie kann aber ihre Wohnung haben. Das war eine Zimmer-Küche- Wohnung mit Toilette und Wasser am Gang. Und dann sind wir da eingezogen, Tante Kitty, meine Mutter, mein Bruder, und ich, und dann, als mein Vater aus dem Gefängnis entlassen wurde, auch mein Vater. Auch nach Wien bekamen wir noch Lebensmittelpakete ohne Absender aus Zurndorf.
Im Sommer wurde er entlassen, unser Besitz wurde arisiert. Einige Dorfbewohner schämten sich und brachten anonym meiner Mutter, die nichts mehr besaß, Lebensmittel und Geld. Als meine Großeltern in den 20er Jahren starben, hat man gefragt, ob die Familie etwas dagegen hat, wenn die Kirchenglocken läuten. Und als die Särge von Zurndorf nach Gattendorf transportiert wurden, haben den ganzen Weg über die Kirchenglocken geläutet. Das war schon ein Zeichen von Achtung und Akzeptanz. Aber das hat sich dann mit der Zeit immer mehr verändert. Zurndorf war als Nazigemeinde bekannt. Zurndorf und Gols waren die beiden Hochburgen der Nazis im nördlichen Burgenland. Dazu kam noch, daß diese Gemeinden, und das ist auch symptomatisch, in erster Linie protestantisch waren. Dadurch waren für mich Protestanten lange Zeit Nazis.
Mein Vater wurde im März 1938 wurde im Landesgericht in Wien festgehalten. Er wurde als Jude verhaftet und außerdem ist ihm der Ruf vorausgeeilt, er sei Kommunist, weil wir einen tschechischen Wagen, einen "Tatra", besaßen und mein Vater oft nach Bratislava gefahren ist. Das war aber immer nur eine halbe Stunde, um das Auto warten zu lassen oder einfach um Kaffee zu trinken. Das war damals so kleiner Grenzverkehr. Und die Bauern haben gesagt, er hat von Bratislava aus mit Moskau Funkverkehr. Im Sommer wurde er entlassen, unser Besitz wurde arisiert.
Mein Bruder muß vielleicht damals acht oder neun Jahre alt gewesen sein, der wußte sich zu wehren. Er ist dann ins Gymnasium nach Eisenstadt gekommen. Das hieß Bundeskonvikt, aber er hat nur zwei Jahre diese Schule besucht und ist dann 1938 rausgeschmissen worden. Er hat dann in Wien das Chajes-Gymnasium besucht. Das war damals Anfang 1938 noch ein jüdisches Gymnasium im 20. Bezirk, und genau gegenüber haben wir gewohnt. Wenn die erste Glocke geläutet hat, ist mein Bruder aus dem Bett gestiegen.
Mein Bruder hat die vier Klassen Volksschule in Zurndorf absolviert. Da gab es den Sohn eines Tierarztes, der hieß Fritz Tauscher. Fritzi Spiegl und Fritzi Tauscher sind in eine Klasse gegangen. Fritzi Tauscher saß hinter meinem Bruder, und mitten im Unterricht ist mein Bruder aufgestanden und hat dem Fritzi Tauscher eine verpaßt und hat sich wieder hingesetzt. Das Ganze hat sich wortlos abgespielt. Der Lehrer hat gesagt: "Fritzi Spiegl, was hast du gemacht? "Bitte, ich hab ihm eine runter gehauen." "Und warum hast du das getan?" "Bitte, weil er hat Saujud zu mir gesagt hat." "Fritzi, dann mußt Du es mir sagen und dann werde ich ihn strafen." "Bitte Herr Lehrer, wenn ich es Ihnen sag', sagen Sie nur: Du, Du, Du Fritzi, das darfst Du nicht mehr sagen. Und das hat er bestimmt gleich vergessen. Aber die Ohrfeige merkt er sich." Mein Bruder muß vielleicht damals acht oder neun Jahre alt gewesen sein, der wußte sich zu wehren.
Mit 12 Jahren hatte ich in Wien meine Bat Mitzwah zusammen mit meiner Cousine Alice und meiner Freundin Inge Bräuner. Die Bat Mitzwah fand in der Synagoge in der Tempelgasse im Zweiten Wiener Gemeindebezirk statt. In der Tempelgasse Nummer 5 im Zweiten Wiener Gemeindebezirk stand die "Große Synagoge", die zwischen 1853-1858 in maurischem Stil erbaut wurde. Sie war der größte Tempel Wiens. Am 9. November 1938, in der Reichspogromnacht, wurde sie in Brand gesteckt und zerstört. Nach den Feierlichkeiten in der Synagoge, an der meine Familie und Alices Eltern, Onkel Josef Geiringer und Tante Paula teilnahmen, gingen wir in ein Restaurant in den Prater. Ich weiß noch, daß ich ein Buch über Paula Wessely geschenkt bekam, weil ich sie sehr geliebt habe.
Die vierte Volksschulklasse habe ich in Wien absolviert. In Zurndorf in der Schule gab es schon antisemitische Strömungen, und ich hab sehr unter dem ausgegrenzt werden gelitten. Meine Eltern haben mich darauf hin zu den Eltern meiner Cousine Alice geschickt. Alice Vater war der Bankier Josef Geiringer, der Bruder meiner Mutter. Später habe ich auch bei einer Cousine meines Vaters gewohnt.
Ich hab jedes Jahr die Schule gewechselt. Ich war in ganz gewöhnlichen Schulen, aber ich hatte immer jüdischen Religionsunterricht, der war ja obligat.
Ich hab jedes Jahr die Schule gewechselt. Ich war in ganz gewöhnlichen Schulen, aber ich hatte immer jüdischen Religionsunterricht, der war ja obligat.
Es gab kein Kulturleben in Zurndorf, so luden sich meine Eltern Besuch aus Wien ein oder fuhren nach Wien. Einmal kam zu uns ein Japaner zu Besuch. Er hieß Yoshiokondo, er war ein Studienkollege meiner Cousine Martha. Er ist in Wien in der Straßenbahn gefahren und hat das Wort "Kiritag" gehört. Im burgenländischen Dialekt sagt man "Kiritag" statt Kirtag. Das hat so japanisch geklungen, und da hat er die Martha gefragt, was "Kiritag" ist. Dann hat sie ihm das erklärt und hat ihn eingeladen, den "Kiritag" bei uns zu verbringen. Das war natürlich eine Sensation im Dorf, daß ein Japaner im Dorf ist.
Meine Mutter wollte einmal ein Stück koschere Kalbsleber. Und da hat der Herr Jelenko uns eingeredet, wir wussten ja wenig vom Judentum, es ist ein Gesetz, daß die Kalbsleber dem Schächter gehört. Und wir haben das natürlich geglaubt, und viel später sind wir dann draufgekommen, daß das sein eigenes Gesetz war, weil seine Frau gerne Kalbsleber gegessen hat. Vor dem Fasten am Yom Kippur wurde immer das gleiche Essen gegessen. Das war Tradition. Es war das einzige Mal im Jahr, daß mein Vater beim Essen einen Hut aufgesetzt hat. Es gab Nudelsuppe, Huhn mit Selleriesauce und Kartoffeln, danach Zwetschken- und Apfelkompott. Und zur Krönung des Ganzen gab es einen Mokka, und mein Vater hat die letzte Zigarette geraucht.. Dann haben die Feiertage begonnen. Beim Onkel Nathan gab es genau das gleiche Menü und beim Onkel Willi gab es auch genau das gleiche Menü. In Zurndorf haben wir zuerst Religionsunterricht bei dem Rabbiner Friedjung, einem alten Herrn, gehabt. Bei ihm habe ich Hebräisch lesen gelernt und er hat uns viele Geschichten erzählt. Dann lernten wir beim Rabbiner Jelenko, und wenn wir schwänzen konnten, haben wir geschwänzt.
Am Yom Kippur haben meine Eltern gefastet, das war sehr lustig. Zurndorf ist von Gattendorf vielleicht 4 km entfernt. Man ist im Gänsemarsch zu Fuß nach Gattendorf gegangen, weil da die Synagoge war. Die Männer und die Erwachsenen haben gefastet. Es wurde ein Dienstmädchen mitgenommen, damit die Kinder auch genügend zu essen haben, und das Essen wurde in großen weißen Servietten verpackt, und zwar war das meistens Huhn und Challe und Obst, und wir wurden dann versorgt, während die Eltern in der Synagoge waren und gebetet haben. In Gattendorf trafen sich Juden aus der ganzen Umgebung, sogar aus Bratislava und Budapest, die man ewig nicht gesehen hatte. Wir Kinder sind mal in die Synagoge rein und wieder raus, wie das halt so üblich war. Der Rabbiner war gleichzeitig der Schächter. Rabbiner waren damals ja nicht sehr gut gestellt, und er kam regelmäßig nach Zurndorf und schächtete das Fleisch für die Umgebung bei meinem Onkel Nathan, dem Bruder meines Vaters, der eine Fleischerei hatte.
Meine Eltern hatten die Sodawasserfabrik, da wurde auch Limonade erzeugt. Für die Limonade nahm man richtige Fruchtsäfte und die mußten aufbereitet werden. Das hat meine Mutter überwacht. Aber meine Mutter hatte Dienstpersonal. Es war nicht so, daß sie schwer arbeiten mußte, sondern sie hat ihrem Mann geholfen, und mein Vater hatte ja zusätzlich noch die Vertretung von landwirtschaftlichen Maschinen und war ziemlich viel unterwegs. Es gab drei Leute mit Autos in Dorf, und einer davon war mein Vater. Der andere war der Bäckermeister, und der dritte war ein großer LKW, der gehörte einem Gastwirt. Das war auch schon ein Sonderstatus, ein Auto zu fahren. Für meinen Vater war das Auto wichtig, weil er ja durch seine Arbeit im gesamten nördlichen Burgenland damit herumgefahren ist.
Dadurch, daß meine Mutter aus Wien war und ihre Geschwister in Wien hatte, und Cousins und Cousinen meines Vaters auch in Wien lebten, sind wir öfter nach Wien gefahren. Ich erinnere mich, das erste Ballett, das ich sah, war die "Puppenfee". Ich erinnere mich auch, daß ich mit meinem Bruder ins "Theater in der Josefstadt" gegangen bin, und er hatte Hunger und ich hab eine Wurstsemmel gekauft und die schwesterlich geteilt. Ich weiß sogar noch, was er angehabt hat und ich weiß, was ich angehabt hab. Ich habe zu diesem Zweck das obligate dunkelblaue Samtkleid mit einem rosa Spitzenkragen getragen, und mein Bruder hat einen sogenannten "Mozartanzug" getragen, das war elegant.
Ich durfte nicht in den Kindergarten gehen, weil es ein katholischer Kindergarten war und man mich nicht genommen hätte. Es wäre für mich schön gewesen, in den Kindergarten zu gehen. Mein Cousin Andy, der jetzt in Amerika lebt, hat dann mit uns Schule gespielt. Wir hatten eine Tafel, er war der Lehrer und es gab eine richtige Pause, für die meine Mutter Eier gekocht und Brote gemacht hat. Wir haben dieses Spiel sehr ernst genommen, mit dem Resultat, daß mein Bruder mit vier Jahren Lesen und Schreiben konnte und dann von der richtigen Schule nach Haus gekommen ist und gesagt hat, da geh ich nicht mehr hin, das kann ich schon.
Dann gab es die jüdische Familie Steiner. Sie waren arme Juden und wurden von anderen jüdischen Familien unterstützt. Sie hatten eine Tochter Julia, die nach Kanada auswanderte und von dort noch Familienmitgliedern zur Flucht verhalf. Frau Steiner und Herr Steiner starben vor dem Holocaust. Ich kann mich auch noch gut an die "Schnorrer" erinnern, die von den wohlhabenden jüdischen Familien unterstützt wurden, so daß auch sie nicht im Elend leben mußten. Zwei Brüder und zwei Schwestern meines Vaters lebten in Zurndorf. Mein Vater und die Onkeln sind nicht in Wirtshäuser gegangen und wir Kinder haben nicht auf der Straße barfuß gespielt. Man hat ein behütetes Leben geführt. Innerhalb dieses behüteten Lebens war es sehr nett, weil wir Cousins und Cousinen hatten und immer mit Gleichaltrigen zusammen waren. Aber durch die Ausgrenzung war es keine so schöne Kindheit. Ich wurde viel von anderen Kindern geärgert, wir waren eben anders.
Bis 1933 wohnten Medizinalrat Dr. Michael Wollner mit seiner Frau Leontine in Zurndorf, aber wegen des Antisemitismus übersiedelten sie nach Wien, wurden 1938 deportiert und ermordet.
Ich hatte eigentlich eine schöne Kindheit, aber es gab einen Makel, wir waren Juden. Ich wußte, ich bin anders, weil ich jüdisch bin.
Meine Tante Katharina Geiringer emigrierte nach England. Sie hat bei meinem Bruder und mir während der Emigrationszeit die Mutterstelle übernommen. 1941 lebte ich mit ihr in einem Zimmer in einem Heim für politische Flüchtlinge. Ein halbes Jahr lebte ich mit Tante Kitty in einem Zimmer in diesem Heim und wir waren dort als Putzfrauen angestellt. Tante Kitty heiratete nach dem Krieg Fritz Gutter. Meine Tante Else Geiringer heiratete Leo Schulzer, der am 16.9.1892 geboren wurde. Sie hatten keine Kinder. Sie starb 1933 und ihr Mann Leo Schulzer wurde am 20.10.1939 nach Nisko deportiert.