Gertrude Mechner
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Februar 2003 Interviewer: Tanja Eckstein
Gertude Mechners Wohnung ist voller Bücher. Wenn man mit ihr spricht, kommt man nicht auf die Idee, dass sie fast 90 Jahre alt ist. Sie ist mittelgroß, sehr schlank und - für ihr Alter - gesund. Jeden Tag liest sie die Zeitung und am Abend, vor dem Einschlafen, sechs Seiten eines Buches. Sie geht mit Freunden in Konzerte, denn sie liebt die Musik. Jedes Jahr besucht sie die Familie in Israel: ihre Schwester Anna, ihre Tochter Janina, ihren Schwiegersohn und die Enkelkinder.
Gertrude Mechner stirbt im September 2006.
Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Palästina
Rückkehr nach Wien
Glossar
Mein Großvater väterlicherseits hieß Jakob Samek. Er wurde in Mähren geboren und kam irgendwann nach Wien. Ich weiß, dass mein Großvater einen Bruder hatte, der Michael Samek hieß und in Wien ein Antiquitätengeschäft besaß. Das war im 2. Bezirk in der Praterstraße, ungefähr dort, wo die Tempelgasse beginnt. Mein Vater hat ihn einmal besucht und mich mitgenommen.
Die Großmutter Johanna Samek, geb. Österreicher, wurde um 1855 in Laa/Thaya [Niederösterreich] geboren. Von meiner Großmutter weiß ich, dass sie sieben Brüder und eine Schwester hatte. Ich kannte aber nur zwei der Brüder.
Ich glaube, die Schwester meiner Großmutter hieß Jeanette [Jetti]. Sie starb ungefähr 1913 in Mattersburg [Burgenland]. Ich habe dort auf dem Friedhof ein Grab mit diesem Namen gefunden. Meine Großmutter hat nie über sie gesprochen, aber es gibt ein Foto, das alle Brüder mit meiner Großmutter zeigt, und es ist noch eine Frau auf dem Foto, die genauso aussieht wie meine Großmutter.
Mit dem Onkel Siegmund Österreicher waren wir in sehr engem Kontakt. Er war Besitzer einer Lederhandlung in der Schottenfeldgasse und wohnte in einer wunderschönen alten Villa in Hietzing [Wien, 13. Bezirk]. Ich kann mich an den Garten mit den herrlichen Blumen erinnern. Seine Frau Paula war sehr musikalisch. Sie hatten eine Tochter, die hieß Lilli. Fast jeden Sonntagvormittag haben wir sie besucht. Das Mittagessen hatten wir dann zu Hause. Als Hitler kam, hat Onkel Siegmund sich aufgehängt. Paula ist wenige Monate danach gestorben. Lilli ist in die USA emigriert.
Onkel Adolf Österreicher war mit einer Christin verheiratet. Die Tochter Charlotte hat den Krieg in Wien überlebt. Ich habe sie 1957 gesehen, hatte aber nachher keinen Kontakt mehr zu ihr.
Onkel Johann Österreicher habe ich nie kennen gelernt. Er ist lange vor 1938 nach Amerika ausgewandert. Ich weiß, dass er Kinder hatte.
Meine Großeltern Johanna und Jakob Samek hatten drei Töchter und einen Sohn.
Clara Samek war verheiratet mit Herrn Földvary. Clara starb in den 1890er- Jahren bei der Geburt ihres Sohnes Karl. Herr Földvary heiratete nach dem Tod von Clara ihre Schwester Camilla, mit der er noch zwei Kinder hatte: Otto und Clara. Meine Großmutter Johanna liebte ihren Enkel Karl sehr. Sie wollte nicht, dass er 1914 in den Krieg muss und schickte ihn nach Lateinamerika. Auch Karl, der sich dann Carlos nannte, liebte seine Großmutter sehr. Er lebte in Guatemala und wurde ein sehr guter Kaufmann. Er handelte mit Fahrrädern und Metallwaren, heiratete nie, hatte keine Kinder und war noch einige Male in Wien. Er starb in Guatemala. Als Herr Földvary starb, heiratete Camilla den Journalisten Norbert Freuder, der für den Ullstein Verlag arbeitete. Camilla emigrierte mit ihrem Mann in die USA. Norbert Freuder übernahm dort die Vertretung einer sehr bekannten Wiener Strickwarenfabrik. Tante Camillas Kinder Otto und Clara Földvary emigrierten nach Palästina und später auch in die USA.
Tante Sidonie Kaufmann, geborene Samek, war mit einem Früchtehändler verheiratet. Sie hatten Kinder, aber wie die hießen, weiß ich nicht. Sidonie Kaufmann wurde in Jugoslawien ermordet.
Die Großeltern hatten eine wunderschöne Wohnung in der Taborstraße 24A. Meine Großmutter Johanna war klein und schwerhörig. So lange ich sie kannte, benützte sie ein langes Hörrohr. Sie besaß ein Geschäft mit Bettwaren in der Glockengasse 4, im 2. Wiener Gemeindebezirk und war eine gute Geschäftsfrau. Meistens ist sie an der Kassa gesessen. Ihre Töchter Camilla und Sidonie haben sie im Geschäft unterstützt. Ich besitze noch einen Waschlappen mit Reklame für das Geschäft meiner Großmutter.
Mein Großvater hatte eine Rohhäute- und Fellhandlung in der Judengasse. Ich war einmal dort und erinnere mich noch an den schrecklichen Gestank der abgezogenen Hasenhäute, die zu Zylinderhüten verarbeitet wurden. Er hat immer einen Hut getragen, und ich erinnere mich an seine große Nase. Die war blau und man konnte die Adern sehen.
Der Großvater hatte eine kleine Kehille, eine kleine jüdische Gemeinde, die war in der Glockengasse. Es gab einen privaten Tempel mit einem Minjan 1. Er war sehr fromm und war sehr böse, wenn seine Enkelkinder Schinkenbrot gegessen haben. Ich habe selbst einmal eine Watschen [Ohrfeige] bekommen, als ich auf seine Frage: 'Was hast du denn heute schon gegessen' geantwortet habe: 'Eine Schinkensemmel.' Nachher haben meine Eltern mir gesagt: 'Das hast du nicht zu sagen, das darfst du doch nicht!' Ich war damals sechs Jahre alt und habe nicht gewusst, dass eine Schinkensemmel nicht koscher ist.
Das Geschäft meiner Großmutter existiert noch und der Name Samek steht noch an der Hauswand. Es wurde arisiert, das weiß ich von meinen Eltern. Als ich aus Israel zurückkam, habe ich mir das Geschäft angeschaut. Die Leiter meiner Großmutter befand sich noch drinnen. Diese Leiter konnte man mittels einer Rolle, die oben angebracht war, bewegen.
Am Morgen des 29. Oktober 1926 ist mein Großvater tot im Bett gelegen. Ich war zwölf Jahre alt und man hat mir nicht erlaubt, zum Begräbnis zu gehen. Er ist am 1. Tor auf dem Zentralfriedhof begraben.
Der Großvater mütterlicherseits hieß Michael Brüll. Er wurde 1856 in Mähren geboren, kam irgendwann nach Wien, ging aber weiter nach Innsbruck, weil die finanzielle Situation der Familie schlecht war. Meine Großmutter Nina, die er 1884 geheiratet hat, hieß mit dem Mädchennamen Bauer. Sie stammte aus einer jüdischen Familie, die früher Schischa geheißen hat und der gemeinsam mit der Familie Schwarz das Kaufhaus 'Bauer und Schwarz' in Innsbruck gehört hat.
Der Großvater hat sich 1908 eine Möbelfabrik aufgebaut und besaß ein Möbelgeschäft und ein Holzlager in der Nähe von Innsbruck. Er war ein frommer Mann und die Großeltern hatten neun Kinder. In Innsbruck war eine sehr nette jüdische Gemeinde entstanden, und er war für die Chewra Kadischa 2 zuständig. Ich kann mich noch an einen Besuch mit meiner Mutter bei den Großeltern in Innsbruck erinnern. Ich bin auf einem Schemel im Schlafzimmer gesessen. Mein Großvater ist auf einem Bett gelegen und hat mir auf Tirolerisch ein Soldatenlied vorgesungen: 'Mein Vater ist in Oberland, ich waß nit, wann er kimmt.'
Die Schwester des Großvaters hieß Libussa. Sie war mit einem Herrn Lehrt verheiratet, der Musiker war. An die Tante Libussa erinnere ich mich. Sie hatten ein Haus in Gersthof [18. Bezirk] in Wien, nahe zum Schlosspark. Da gingen Stiegen hinauf und rückwärts gab es eine Tür, die sich zu einem Riesengarten öffnete.
Ein Bruder meines Großvaters hatte ein Möbelgeschäft in Wien. Ein anderer Verwandter des Großvaters war der Ignaz Brüll, ein bedeutender Komponist und Dirigent, der 1907 gestorben ist.
Der Großvater, der Rheumatismus und Gicht hatte, starb 1919 in Innsbruck.
Meine Mutter Leontine und ihre Schwester Elisabeth waren die einzigen der neun Geschwister, die nicht in Innsbruck, sondern in Wien geboren wurden.
Meine Tante Elisabeth Reitzer, geborene Brüll, wurde 1886 geboren und war mit dem Onkel Jakob, den alle Jaques nannten, verheiratet. Jaques war ein ungarischer Jude. Als ich drei Jahre alt war, besuchten meine Mutter und Tante Lotte mit meiner Schwester Anna und mir die Stadt Arad im heutigen Rumänien. Meine Mutter und ihre Schwester haben dort viel Spaß miteinander gehabt. Nach dem I. Weltkrieg übersiedelten Elise, wie Tante Elisabeth genannt wurde, und Onkel Jakob von Innsbruck nach Wien. Onkel Jakob arbeitete als Architekt und hatte ein Büro am Schottenring. Sie hatten zwei Kinder, Alexander und Paul. Alexander und Paul sind 1938 nach Brasilien emigriert. Paul hat in Brasilien eine Christin geheiratet. Onkel Jakob und Tante Elise sind 1938 nach Budapest geflüchtet, wo Onkel Jakob erschlagen worden ist. Tante Elisabeth hat einen der Todesmärsche 3 von Ungarn nach Österreich überlebt. Nach dem Krieg ist Tante Elise nach Brasilien zu ihren Söhnen gefahren und mit Paul und seiner Familie nach Österreich zurückgekommen. Sie hat zuerst in Wien das Geschäft meines Vaters als Tauschhandelsgeschäft geführt, dann ist sie zum Onkel Rudolf nach Innsbruck gegangen. Elise starb 1969. Ich weiß, dass Pauls Tochter und Enkeltochter in Innsbruck leben. Alexander blieb in Brasilien.
Rudolf Brüll, der älteste Bruder meiner Mutter, wurde 1887 geboren. Er war verheiratet mit Julia Steinharter aus München. Sie hatten eine Tochter: Ilse, die 1925 geboren wurde. Onkel Rudolf hatte die Fabrik und das Geschäft des Großvaters übernommen. Als ich 1928/29 in Innsbruck in der Lehre war, hat er sich sehr um mich gekümmert. Er hat mich oft auf Spaziergänge mitgenommen, und im Winter sind wir mit einem Schlitten nach Hall gefahren. Onkel Rudolf hat im dritten Stock des Hauses seiner Eltern, in der Anichgasse Nr. 7, gewohnt.
1938 wurde Ilse von ihrem Vater zuerst mit meiner Cousine Inge nach Wien und im April 1939 mit einem Kindertransport nach Rotterdam [Holland] geschickt. Das St. Jakobus Heim in Eindhoven nahm sie auf. Die Nonnen haben Ilse geraten, sich taufen zu lassen. Aber Ilse hat gesagt: 'Nein, ich bin Jüdin und ich bleibe Jüdin.' Ilse wurde eines Tages verraten, verhaftet, ins KZ Westerbork 4 und von dort nach Auschwitz deportiert. Im September 1942 wurde sie ermordet. Aus Westerbork schrieb sie eine Karte an die Nonnen. Diese Karte habe ich nach Yad Vashem 5 geschickt, die wird dort aufbewahrt. Das war die Geschichte von Ilselein. Meine Cousine Inge hat überlebt und lebt in Innsbruck.
Onkel Rudolf und der Tante Julia hat man 1938 alles weggenommen. Sie haben das Ghetto Theresienstadt überlebt, und nach dem Krieg haben sie sich in Innsbruck alles wieder zurückgeholt. Nur ihr Kind haben sie sich nicht mehr holen können. Onkel Rudolf war bis zu seinem Tod Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Innsbruck. Er ist 1957 an einem Herzanfall gestorben. Tante Julia ist 1971 gestorben.
Josef Brüll, Onkel Pepi genannt, wurde 1889 geboren. Er war Fellhändler. Er war mit der Tante Antonia, geborene Wasserer, verheiratet. Antonia war Christin. Sie hatten eine Tochter: Ingeborg. Inge, wie sie genannt wurde, war die Cousine, die mit meiner Cousine Ilse zusammen in Holland im Kloster versteckt war. Sie hat den Krieg dort überlebt. Onkel Josef hat in Innsbruck, im Keller des Hauses der Großmutter, in der Anichstrasse 7, sein Magazin gehabt. Im 1. Weltkrieg ist er zum Alkoholiker geworden. Vor den Schlachten hat man den Soldaten immer Alkohol gegeben. Er war einige Male in Behandlung, man hat ihn immer wieder gerettet. Onkel Josef starb 1941 in Wien.
Tante Charlotte Brüll, genannt Lotte, wurde 1891 geboren. Sie war nie verheiratet und lebte in Innsbruck. Um 1939 nach Palästina fliehen zu können, ging sie eine Scheinehe ein. Wir haben sie bei uns in Haifa aufgenommen. Sie hatte Friseurin gelernt und war dann in Haifa die Familienfriseuse. Nach dem Krieg ging sie wieder nach Innsbruck zurück, wo sie 1978 starb.
Es gab noch einen Bruder, der Fritz hieß. Er wurde 1894 geboren und ist im Alter von 30 Jahren gestorben. Er war während des I. Weltkrieges auf Sizilien in Kriegsgefangenschaft. Als er nach dem Krieg nach Hause kam und fragte: 'Wo ist der Papa', mussten sie ihm sagen, dass der Papa gestorben war. Seither war er krank.
Helene Gewitsch, geborene Brüll, wurde 1900 geboren. Sie heiratete in Wien Robert Gewitsch. Robert Gewitsch kam aus einer sehr berühmten Familie. Der alte Gewitsch, den ich noch gekannt habe, war mit Herzl befreundet. Robert hatte vor dem Holocaust in Haifa Land gekauft, auf dem ein Haus gebaut wurde. In dem Haus haben wir dann gewohnt, bis wir eine Wohnung hatten. Robert Gewitsch und Tante Helene sind mit ihrem Sohn Peter, der damals 10 Jahre alt war, nach Haifa emigriert. Nach dem Krieg hat mein Onkel Rudolf seine Schwester Helena und ihren Mann Robert nach Innsbruck zurück beordert, weil er in seinem Geschäft Hilfe brauchte. Helene starb 1980 in Innsbruck. Peter Gewitsch ist in Israel geblieben und hatte eine sehr hohe Position in der Bank Leumi 6. Jetzt ist er Pensionist.
Felix Brüll wurde 1901 geboren. Vor dem Holocaust ist er nach Schanghai [China] emigriert. Er hat den jüngsten Bruder, Onkel Franz, geboren 1906, mitgenommen. In Shanghai hat er seine Frau Riva kennen gelernt und geheiratet. Riva war aus Charbin in der Mandschurei. Die Familie war aus Russland nach China ausgewandert. Nach dem Krieg sind sie nach Innsbruck gegangen. Onkel Felix hat die Möbelfabrik und das Geschäft geführt, nachdem der älteste Bruder, Onkel Rudolf, gestorben ist. Onkel Felix starb 1984.
Der Franz hat nach dem Krieg in Innsbruck seine Frau Bertha, eine Christin, geheiratet. Ihr Sohn Michael lebt in Innsbruck.
Meine Mutter Leontine war die älteste der Geschwister und wurde am 18. Januar 1885 in Wien geboren. Sie hat mit ihren Eltern in Innsbruck gelebt und im Geschäft ihres Vaters Möbel verkauft. Meinem Vater in Wien hat man über ein nettes Mädchen aus einer jüdischen Familie in Innsbruck erzählt, und er ist zu ihr gefahren. Sie haben sich gut verstanden und es wurde Verlobung gefeiert. 1908 haben meine Eltern in Innsbruck geheiratet.
Meine Schwester Anna, jüdisch Chana, wurde 1909 geboren. Mein Bruder Michael wurde 1920 in Wien, in der Mariannengasse, im Sanatorium Löw geboren. Er war der Jüngste. Ich bin zu Hause, im 8. Bezirk, in der Piaristengasse 1, am 6. Januar 1914 mit Hilfe einer Hebamme zur Welt gekommen.
Meine Eltern hatten mit einem Kompagnon - Herr Pauli, ein polnischer Jude - in der Lerchenfelderstrasse ein Geschäft mit Bettwaren. Zu Beginn des 1.Weltkrieges wurde mein Vater zum Militär, zur Kavallerie, einberufen. Meine Mutter hat dem Herrn Pauli nicht sehr getraut. Als sie erfuhr, dass er das Haus kaufen will, befürchtete sie, dass er sie hinausschmeißen will. Daraufhin hat sie ihm die Teilhaberschaft aufgekündigt. Mit dem Geld, das sie sich von ihrer Familie in Innsbruck ausgeborgt hat, hat sie das Haus gekauft, in dem ich noch heute wohne.
Meine Kindheit war schwer. Während des 1. Weltkrieges war ich ein kleines Kind, und ich kann mich nur an Zwiebelsuppe erinnern. Man hat sich um Brot anstellen müssen, und es war kalt. Wir hatten keine Pelzschuhe, nur bis zum Knie gestrickte Strümpfe aus Baumwolle. Als ich etwas älter war, wusste ich nicht, was eine Semmel ist.
Mit sechs Jahren kam ich in die Schule in die Lange Gasse, im 8. Bezirk. Nach Ende des 1. Weltkrieges hat die amerikanische Armee Ausspeisungen für die armen Kriegskinder organisiert. In der 1. Klasse wurden wir in einer Schule im Keller von den Amerikanern mit Kakao und Reis gefüttert, damit wir nicht verhungern. Mir hat das aber nicht geschmeckt. Zu Hause hatten wir Brot aus Mais, das ist immer zerfallen. Ich war schon acht Jahre alt, als ich zum ersten Mal einen Milchstriezel [österr. für Hefezopf, große Brioche] gegessen habe. An die Care - Hilfspakete aus Amerika mit Corned Beef und Kondensmilch kann mich auch noch genau erinnern.
Ich musste schon früh selbständig sein. An meinem zweiten Schultag hat meine Mutter vergessen, mich von der Schule abzuholen. Ich bin dann allein über eine Straße gegangen, auf der eine Straßenbahn gefahren ist, aber das habe ich ohne Probleme geschafft. Danach bin ich immer allein zur Schule und nach Hause gegangen. Während der Volksschulzeit bin ich in den Religionsunterricht in die Lerchengasse gegangen. Der war in eine Bubenschule, und die jüdischen Kinder aus mehreren Schulen wurden dort von einem Rabbiner unterrichtet. Einmal, ich war auf dem Weg von der Lerchengasse nach Hause, hat einer geschrieen: 'Saujuden'. Ich habe 'Sauchristen' zurück geschrieen. Diese Erinnerung ist mir geblieben.
Ich bin mit Musik aufgewachsen. Als Kind bekam ich Klavierunterricht bei Professor Wolffsohn, einem polnischen Juden. Er war ein berühmter Pianist - aber er war bucklig, und ich habe mich vor ihm gefürchtet und wollte nicht zu ihm gehen.
Als ich elf Jahre alt war, fuhr ich mit der Großmutter nach Mattersburg, wo es eine große orthodoxe Kehille [jidd. Gemeinde] gegeben hat. Wir haben dort unsere Verwandten besucht. Die wohnten in der Judengasse, die es heute nicht mehr gibt. Ich erinnere mich genau: es führte eine Stiege hinauf. Oben ist ein Bruder der Großmutter gesessen, der hat immer am Donnerstag gefastet. Er war einer von den Letzten, die dort gelebt haben. Die anderen sind alle nach Innsbruck gegangen. Die Brüder in Innsbruck waren nicht so fromm.
Als Kind war ich oft bei Großmutter Nina in Innsbruck, damit sie mich ein bisschen aufpäppelt, und ich erinnere mich, wie der Onkel mich mal in den Tempel in der Sillgasse mitgenommen hat. Die Synagoge wurde 1938 zerstört und dem Hausmeister als Brennholz übergeben. Die Torahrollen konnten aber gerettet werden.
Meine Eltern waren tüchtige Geschäftsleute. Sie haben beide gearbeitet, und das Geschäft ist gut gegangen. Wir wohnten in der Lerchenfelderstraße in unserem Haus in einer sehr großen Wohnung, hatten eine Köchin und mein Bruder hatte eine Kinderfrau: die kam aus Radstadt, hieß Fräulein Ina, und blieb bis zu seiner Schulzeit.
Meine Mutter hat den ganzen Tag im Geschäft gearbeitet, hat eingekauft, und die Köchin hat gekocht. Mein Großvater väterlicherseits hatte von meiner Mutter am Anfang verlangt, dass sie koscher kocht, aber nach einem oder zwei Jahren hat sie gesagt 'genug', sie wolle nicht mehr. Mein Vater hat darin kein Problem gesehen.
Meine Mutter war herzlich, aber sie war ein Sportlertyp und hat sich nicht übertrieben viel um uns gekümmert. Sie war eine große Sportlerin, hat als erste Schiläuferin in der Schischule Sdarsky trainiert und ist in Lilienfeld schon Ski gefahren.
Als Kinder waren wir auch auf Sommerfrische. Wir waren zum Beispiel in Kärnten am Millstätter See und ich erinnere mich, wie meine Mutter gesagt hat: 'Kinder schaut's, wie man ins Wasser springt.' Sie ist oben gestanden auf einem Trampolin und wir unten. Und als wir schon schwimmen konnten, hat sie uns Kopfsprünge vorgeführt. Meine Mutter war auch künstlerisch sehr begabt. Sie hat Gitarre gespielt, Gesangsunterricht und Malunterricht genommen, und hat Porzellan bemalt. Es gibt noch ein Bild von ihr, ein Stillleben. Das hängt in Israel bei meiner Tochter.
Meine Eltern hatten ein Opern-Abonnement. Sie haben viel von Musik gehalten. Und mein Vater liebte das Kaffeehaus. Sein Stammkaffee war das Café Heinrichshof, vis-à-vis der Oper. In dem Kaffeehaus traf er sich mit verschiedenen gut situierten Familien. Das Haus wurde im 2. Weltkrieg zerstört, aber nachher wieder aufgebaut.
Als ich 15 Jahre alt war, kaufte mein Vater einen schönen Renault im Autohaus Strakosch. Die Sitze waren mit Samt bezogen. Mein Vater hatte einen eigenen Chauffeur, der hieß Herr Fayer und war ein Wiener Jude. Er war immer in der Nähe, und wenn mein Vater ihn brauchte, fuhr er ihn. Vorher hatte unser Hausbesorger, ein sehr netter Mensch, unseren Lieferwagen chauffiert. Mit dem Auto haben wir auch Ausflüge gemacht, zum Beispiel nach Baden, das hat zwei Stunden oder länger gebraucht. Mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h zu fahren, war damals eine Raserei.
Meine Eltern gingen in den Tempel in der Neudeggergasse. Das war auch mein Tempel, als ich aufs Gymnasium auf der Tuchlauben ging. Damals begann ich, zu den Jugendgottesdiensten zu gehen. Daher stammten meine Hebräisch- Kenntnisse und meine Kenntnisse über Religion. Ich hatte in der Neudeggergasse einen phantastischen Rabbiner im Jugendgottesdienst, das war der Dr. Bauer. Der hat mich sehr beeinflusst, ich war dann etwas fromm und sehr jüdisch.
Das Gymnasium habe ich mit 15½ Jahren verlassen, weil der Onkel aus Innsbruck gesagt hat, ich müsse meinem Vater in Wien helfen und das Tapeziererhandwerk lernen. Mein Vater hatte keine Lizenz für die Tapezierersachen. Meine Schwester, die mit Modezeichnungen beschäftigt war, hat sich für das Geschäft nicht geeignet, und mein Bruder war sechs Jahre jünger als ich. Ich bin ohne weiteres aus der Schule gegangen. In Innsbruck wurde ich in die Möbelfabrik und in die Tapezierer-Werkstätte aufgenommen. Gewohnt habe ich die ganze Zeit bei meiner Großmutter Nina. Die Wohnung war sehr hübsch, es gab viele große schöne Räume, aber ich habe mit ihr zusammen im Schlafzimmer schlafen müssen. Das war nicht sehr angenehm für mich. Die Großmutter hatte immer eine Angestellte, die gekocht hat. Zu dieser Zeit hat sich meine Großmutter nicht mehr um das Möbelgeschäft kümmern müssen. Das hatte ihr Sohn, der Onkel Rudolf übernommen.
In einer Werkstätte mit vielen Burschen habe ich mein Handwerk gelernt: Tapeziererei mit Leder und mit Seegras und mit Wolle arbeiten. Das Leder habe ich bearbeiten müssen, Ledersessel habe ich angefertigt. Meine Hände waren geschwollen und mit dem Klavierunterricht habe ich aufgehört, obwohl ich sehr begabt war. Ich kann auch heute ohne Musik nicht leben. Drei Jahre war ich in Innsbruck, dann habe ich die Gesellenprüfung gemacht. Das ist sehr gut gegangen, aber dann hat mein Onkel Rudolf gesagt: 'Ich habe in Frankfurt durch meine Frau Verwandte, du gehst nach Frankfurt. Dort gibt es eine Fachschule für Tapezierer.' Reichsfachschule hat sie geheißen, und ich bin nach Frankfurt gegangen, ich war ja schon 18 Jahre alt.
Meine Tante Julchen hat mich mitgenommen und mich dort in die Familie eingeführt. Das waren Frankfurter Juden, ich habe zur Untermiete gewohnt und die Schule zusammen mit zwanzig Burschen besucht. Ich habe auch eine Begabung fürs Zeichnen und hatte dort einen wunderbaren Zeichenunterricht. Es war die Bauhaus-Zeit [Architekturrichtung 1919-1933], und wir haben Geometrisch Zeichnen gehabt, Perspektiven und Inneneinrichtungen gezeichnet. In dieser Frankfurter Zeit habe ich meine 'Jüdischkeit' kennen gelernt: Sie wollten mich zu einer Christkindlfeier mitnehmen, und ich sollte das Christkindl spielen. Da habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt, bis sie mich so gequält haben, dass ich gesagt habe, ich spiele kein Christkind, ich bin eine Jüdin! 'Juda verrecke', stand dann auf der Schultafel, da war der Hitler schon im Anzug. Neben der Schule war ein herrliches Gebäude. Das war die Festhalle, da hat der Hitler schon seine Ansprachen gehalten. Ich bin zum Direktor der Schule gegangen und habe gesagt: 'Herr Direktor, ich lass mir das 'Juda verrecke' an der Tafel nicht gefallen.' Der Herr Direktor war ein Freimaurer, und mein Vater war auch ein Freimaurer.
Nach einem Jahr war eine Meisterprüfung, aber die konnte ich nicht machen, weil ich noch nicht großjährig war, also noch nicht 21 Jahre alt war. Ungefähr Anfang der 1930er-Jahre, das war in der Zeit, als Hitler seine Reden gehalten hatte, bin ich nach Wien zurückgekommen.
1931 starb meine Großmutter Nina in Innsbruck.
In Wien war ich Mitglied der zionistischen Gruppe Miriam; mein Mann war bei der zionistischen Jugendorganisation Haboneh. Eine berühmte Frau, ich weiß nicht wie sie hieß, hat die Gruppe Miriam geleitet. Wir haben unsere Zusammenkünfte am Judenplatz gehabt. Da habe ich auch noch mehr hebräisch gelernt. Die Kinder sind mit der Büchse in der Hand Geld für den Keren Hajessod 7 sammeln gegangen. Ich bin nicht sammeln gegangen, denn ich habe im Geschäft gearbeitet. Bis ich großjährig war, habe ich bei meinem Vater gearbeitet. Danach, das war 1935, habe ich die Meisterprüfung gemacht. Ich musste alles wissen: wie man Wolkenvorhänge anfertigt, wie man die zuschneidet - einfach alles. Es war eine interessante und es war eine schöne Zeit. In einem Artikel in einer Wiener Zeitung, stand dann über mich geschrieben: 'Die erste Frau in Österreich ist Tapezierermeisterin!'
In dieser Zeit habe ich meinen Mann, Kurt Mechner, kennen gelernt. Meine Familie war sehr oft in Kritzendorf. Dort gab es einen herrlichen Strand mit vielen jungen Leuten. Der Strand war geteilt: links waren die Christen und rechts die Juden. Mein Vater hatte in Kritzendorf ein Häuschen gekauft. Dort habe ich ihn kennen gelernt. Er war zwei Jahre älter als ich, er wurde am 24. Dezember 1912 in Wien geboren und hatte in einer technischen Schule in der Währinger Straße gelernt. Die Schule hieß Technisches Gewerbe- Museum. Als wir uns kennen gelernt haben, hat er schon als Elektroingenieur gearbeitet.
Meine Führerscheinprüfung habe ich in Mistelbach gemacht, weil man in Wien mit Brillengläsern keine Autoprüfung machen durfte, in Mistelbach hat man es erlaubt. Ich bin dann auch wirklich unseren Lieferwagen gefahren, und eines Tages, da war ich schon verlobt, hat mein zukünftiger Mann gesagt: 'Du kannst nicht so um die Kurven fahren, du schmeißt uns ja hinten im Wagen um.' In der Emigration habe ich einmal ein Auto gelenkt, und da hat mein Mann gesagt:'Du fährst schon wieder auf der Seite.' Da bin ich ausgestiegen und habe seither nie mehr ein Auto gelenkt. Das war sehr gut, denn ich hatte einen Augenfehler, was ich nicht gewusst hatte.
Meine Schwester Anna ist 1933 mit ihrem ersten Mann, Oswald Skall, nach Palästina ausgewandert. Anna ist vier Jahre älter als ich und sehr intelligent. Sie hat an der Kunstgewerbeschule in Wien beim Professor Wimmer Modezeichnen gelernt und dann verschiedene Modelle an große Firmen verkauft. Sie war nicht fest angestellt, hat zu Hause gelebt und hat nur wenig damit verdient. Wir haben uns in unserer Kindheit nicht so verstanden, wie man es von Geschwistern erwartet; wir waren zu verschieden. Erst später, in der Emigration, wurde das Verhältnis besser. Meine Schwester hat ein sehr bewegtes Leben gehabt. Die Eltern wollten nicht, dass sie heiratet. Aber sie hat es doch getan. Sie hatte ihren ersten Mann schon mit 15 Jahren in Millstatt, einem Ferienort in Kärnten, kennen gelernt. Die Familie Skall war eine sehr große Familie. Der Vater war Direktor vom Kaufhaus Gerngross. Sie hat dann mit ihrem Mann in Haifa gelebt und als Modezeichnerin gearbeitet. Später hat sie Verkaufstechnik unterrichtet. Nach dem Tode ihres Mannes hat sie Otto Fuhrmann geheiratet, der aber auch schon gestorben ist. Sie hat keine Kinder und lebt in einem Altersheim in Israel. Meine Tochter ist die Einzige, die sie regelmäßig besucht.
Schon als Kind habe ich meinen Bruder Michael geliebt. Er war sechs Jahre jünger und ich habe ihn als Pupperl [österr. für Püppchen] aufgezogen. Er war unser aller Liebling, er war lieb, nett und ein süßes Kind mit goldblonden Locken. Knapp vor seinem Eintritt in die Schule wurde mein Vater wahnsinnig energisch und forderte: 'Dem Micki muss man die Locken abschneiden.' Mein Bruder hat lange Locken gehabt. Meine Mutter war sehr gekränkt. Wir sind damals auf Urlaub auf den Semmering gefahren und mein Vater hat gemeint, am Semmering muss man wie ein richtiger Bub aussehen.
1938, mit 18 Jahren, wurde er aus dem Gymnasium in der Albertgasse rausgeschmissen 8. Er ist nach Innsbruck gegangen und Onkel Rudolf hat einen Bergführer engagiert, mein Bruder war ein richtiger Pfadfinder, damit er ihn über die Berge in die Schweiz führt. Der Bergführer hat viel Geld genommen und ihn dann mitten auf dem Weg stehen gelassen. Er hat aber den Weg gefunden, trotzdem es Nacht war. Ein Schweizer Beamter hat ihn in einen Zug nach Chur gesetzt, und in Chur wurde er von einem phantastischen Polizeipräsidenten empfangen. Er hat für ihn in seinem eigenen Haus auf dem Dachboden ein Zimmer eingerichtet und etwas Taschengeld von der jüdischen Gemeinde besorgt. Er durfte bei ihm bleiben und hat eine Fliegerschule besuchen können. Segelfliegen war schon sein Hobby, als er noch ein Kind war. Dann bekam er von einem unserer Verwandten ein Affidavit 9 nach Amerika. Dieser Verwandte hat Affidavits an viele Familienmitglieder ausgeteilt. Nach neun Monaten bei dem Polizeipräsidenten in Chur ist mein Bruder nach Amerika ausgewandert.
Auch ich habe an Auswandern gedacht. Angefangen hatte es mit 'Juda, verrecke' in Frankfurt. Ich bin zurückgekommen und habe mich mit dem Zionismus beschäftigt. 1934 war ich mit meinem Vater in Palästina. Meine Schwester hat schon in Haifa gelebt. Ihr Mann war Geometer und hat mit Drusen Böden des Barons Rothschild 10 vermessen. Ich habe meine Schwester besucht und kam nicht wie geplant nach vier Wochen zurück, sondern habe die Reise ein bisschen verlängert. Ich hatte Verwandte in Binjamina 11 und habe viele Deutsche und Österreicher getroffen, die schon früh als Zionisten nach Palästina gegangen waren. Es hat mir gut in Palästina gefallen, und ich konnte nach meiner Rückkehr in Wien die grauen und verdreckten Häuser nicht mehr sehen. So beschlossen mein zukünftiger Mann und ich: Wir gehen nach Palästina!
1938, knapp vor unserer Abfahrt nach Palästina, haben wir im Tempel in der Neudegger Gasse [im 8. Bezirk], geheiratet. Meine Mutter hat in unserer Sechszimmerwohnung für 60 Personen einen Polterabend veranstaltet. Es war eine sehr hübsche Hochzeit. Ich war eigenwillig und habe nicht in Weiß heiraten wollen; ich habe mir ein schwarzes Samtkostüm mit einer weißen Blüte gemacht. Meine Schwiegermutter war Pianistin, und mein Mann und meine Schwägerin waren auch sehr musikalisch. Mein Mann hat Klavier und Violine gespielt, er war ein begabter Musiker.
Mein Vater hat Geld für uns aufgetrieben, wie, weiß ich nicht mehr. Das Geschäft war arisiert worden und auch sein Auto hatte man ihm weggenommen. Wir haben aber noch Zertifikate 12 gekriegt, und ich habe dann sechs Verwandte dazu überredet, auch nach Palästina zu gehen. Als wir in Palästina waren, haben wir meine Eltern, meine Großmutter Johanna, die Eltern meines Mannes sowie die Schwester meines Mannes und ihren Mann aus Österreich herausgeholt. Meine Mutter hatte in Wien als Vorbereitung auf Palästina noch einen Backkurs besucht und dann in Haifa für die ganze Familie fleißig gebacken.
Zuerst haben wir mit meinen Schwiegereltern zusammen gewohnt. Dann haben wir auf dem Carmel [höchstgelegene Teil Haifas] ein Templer-Haus 13 gefunden. Mein Mann hat einen alten Lieferwagen gekauft und Waren für ein Warenhaus ausgeliefert. Dann haben wir ein größeres Haus gefunden, und da haben wir dann mit Vater, Mutter und meiner Großmutter gewohnt. Später haben mein Mann und ich am Carmel ein sehr hübsches Häusel gemietet, und meine Großmutter hat bei uns in einem Zimmer gewohnt. Sie war immer fleißig und hat für Bettwäsche wunderschöne Ausbesserungen gemacht. Sie konnte Flicken einsetzen und hat alles mit der Hand gemacht - das war wunderbar. Sie hat auch sehr gut gekocht. Am ärgsten war, dass sie immer das Hörrohr benutzen musste. Als sie 1943 starb, war ich schon schwanger. Sie hat ihr Urenkel leider nicht mehr erlebt.
Als ich schwanger wurde, war ich schon fast 30 Jahre alt. Unsere Tochter Janina wurde 1943 in Haifa geboren. Damals kam es zu Unruhen in Haifa, da sind die Araber mit Messern herumgerannt. Wir haben Freunde meines Mannes aus der Schulzeit zu uns genommen, die im arabischen Viertel gewohnt haben. Es waren sehr schwierige Zeiten. Mein Mann hatte in dieser Zeit in Haifa ein Elektrogeschäft mit einem Kompagnon, und da musste er mit einem gepanzerten Auto fahren, weil die Araber auf uns geschossen haben.
Ich habe ein kleines Geschäft aufgemacht. Unten war der Verkaufsraum und im ersten Stock war noch ein schmaler Raum. Ich habe Matratzen, Sessel, Daunendecken aus alten Tuchenten und Steppdecken machen können. Ich hatte sehr bald gute, nette Kunden - deutsche Emigranten - und ich war ziemlich bekannt. Dann habe ich ein anderes Geschäft in der Nordaustrasse in Haifa eröffnet. Das war eine Gegend, die viel belebter war. Mir gegenüber befand sich das berühmte Kaffeehaus 'Sternheim', in dem sich alle Emigranten trafen.
Mein Vater ist jeden Tag gekommen und hat mir geholfen. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Wir haben in Haifa sogar einen Mann gefunden, der eine Federreinigungsmaschine aus Österreich importiert hatte. Ich habe die Federpolster von den Kunden angenommen und diese reinigen lassen. Mein Vater war als junger Mann sehr oft in England gewesen und hat dort in der Firma Sanderson´s ltd. für uns eingekauft. Die haben speziell daunendichte Satins und auch Tapeten hergestellt. Einmal noch war er von Haifa aus in England und hat mir Satins gebracht. So konnte ich aus Tuchenten die herrlichsten, schönsten Decken machen. Ich habe immer besser verdient als mein Mann.
Während dieser Zeit in Israel hatte ich keine Zeit, an Religion zu denken. Ich musste arbeiten, und ich war sehr flink und tüchtig und wirklich begabt für das Handwerk. Da hatte mein Onkel, Gott sei Dank, den sechsten Sinn gehabt.
Mein Mann hat dann später mit einem Herrn Goldklang, der in Wien bei der Hakoah 14 gewesen war, ein Kaffeehaus betrieben, das zwischen der Herzl- und der Nordaustrasse lag. Dorthin kamen viele junge Leute, die wir alle gekannt haben; der Gerhard Bronner 15 zum Beispiel. Er hat Klavier gespielt, er war schon damals ein sehr begabter, wunderbarer Musiker.
Mein Bruder hat als Pilot eines Lastenseglers in der amerikanischen Armee gegen Hitler gekämpft. Während der Invasion auf Sizilien kam es zu einem Unfall, und bis auf ihn sind alle Insassen ertrunken. Er konnte sich aus dem Flugzeug retten und bekommt noch heute Herzschmerzen, wenn er daran denkt. Nachdem ihn ein englisches oder amerikanisches Boot aus dem Meer gefischt hat, wurde er auf Erholung nach Ägypten geschickt. Von Ägypten aus hat er in Haifa angerufen, hat sich Urlaub genommen und ist zu uns gekommen. Meine Eltern und ich hatten ihn viele Jahre nicht gesehen. Mein Vater ist mit ihm am Carmel spazieren gegangen und die Leute haben gesagt: 'Mit was für einem Goj [Nichtjude] geht eigentlich der Herr Samek hier spazieren', denn mein Bruder sah gar nicht jüdisch aus.
1950 waren wir das erste Mal wieder in Europa. Nach dem Krieg ist die Familie aus allen Teilen der Welt nach Österreich zurückgekommen. Wir sind nach Innsbruck gefahren, die Tante Lotte aus Haifa war schon wieder zurück. Sie hat sich um unsere Tochter Janina gekümmert, und mein Mann und ich sind nach Paris zu Verwandten gefahren. Tante Lotte hatte sich auch in Haifa um Janina gekümmert und sie im Kinderwagen immer spazieren geführt. Sie war nicht verheiratet, und wir waren ihre Familie.
Nach der Rückkehr von unserer Europareise hat mein Mann gesagt: 'Ich gehe zurück!' Sein Freund, der auch in Haifa gelebt hat, wollte auch zurück. Ich wäre gern geblieben und habe innerlich schwer gekämpft. Aber mein Mann hat auch die Hitze in Israel nicht vertragen. 1957 sind wir nach Wien zurückgekommen. Meine Mutter war schon 1947 wieder in Österreich auf Besuch. Sie war in Seefeld in Tirol mit ihrer Schwester Lotte und ihrem Bruder Rudolf und ihrer Schwägerin Julia, die beide Theresienstadt überlebt hatten. 1950 fuhr sie nach Wien und bekam unser Haus zurück. Das Geschäft war natürlich arisiert gewesen - alles hatten sie weggenommen und ausgeraubt. Meine Mutter fuhr auch noch nach Amerika, um meinen Bruder zu besuchen. Sie starb am 29. Juni 1952 in Haifa.
Meine Tochter Janina war 1957 dreizehn Jahre alt und ist in eine sehr gute Schule am Carmel gegangen. Bis heute muss ich mir von ihr anhören, was ich ihr mit der Rückkehr nach Wien angetan habe. Der Anfang in Wien war nicht besonders gut. Mein Mann hat wenig verdient, wir haben in Untermiete gewohnt, bis wir im eigenen Haus eine Wohnung kriegen konnten. Wir haben eine Ablöse zahlen müssen, es war sehr schwer, es gab sehr viel Zorres. Dann habe ich bei der Firma Herrenhuter am 'Neuen Markt' fast 10 Jahre die Vorhangabteilung geleitet. Danach bin ich in Pension gegangen. Mein Mann ist zu einer sehr großen Firma gekommen, die haben Kronkorken hergestellt. Die Firma gehörte einem amerikanischen Juden, der in Wien einen Filialleiter brauchte. Und mein Mann hat das übernommen.
Meine Tochter hat in Wien die Matura gemacht, danach einen Handelsakademie- Kurs für Abiturienten absolviert und bei IBM gearbeitet. 1965 hat sie sich zu IBM nach Tel Aviv versetzen lassen. Ihr Mann Norman ist Amerikaner. Sie haben ein Jahr in den USA gelebt und sind dann wieder zurück nach Israel gegangen. Er ist Chiropraktiker und hat eine Ordination in Ramat Hasharon. Meine Enkelkinder Daniel - er ist 25 - und Shira - sie ist 21 - sprechen sehr gut Deutsch, weil meine Tochter mit den Kindern im Sommer immer in Wien oder in unserer Sommerwohnung in Bad Vöslau war, und die Kinder haben dadurch sehr viel Deutsch gehört.
Mein Mann starb 1982 in Wien.
Ich bin über einen befreundeten Arzt zu Or Chadasch 16 gekommen. Ich gehe meistens freitags und zu den Feiertagen, und ich bete meistens um Shalom für Israel. Aber es ist ein bisschen sehr 'nicht jüdisch' geworden: es sind viele Christinnen dort, die zum Judentum übertreten wollen.
Ich habe in Wien fast niemanden mehr. Ich fahre regelmäßig nach Israel und fühle mich dort sehr zu Hause, obwohl mir vieles dort nicht gefällt. Im Haus meiner Tochter habe ich meine eigene kleine Wohnung. Ich bin eine Israelin geblieben. Das geht nicht anders, denn ich habe mein Kind, die Enkelkinder und sehr viel Mischpoche in Israel. Ich bin nicht sehr fromm aufgewachsen, aber mit dem Herzen bin ich Jüdin geblieben, und das werde ich immer sein.