Tag #132546 - Interview #78518 (Siegfried-Buby Schieber)

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Vor der Deportation meiner Familie nach Transnistrien [heute Ukraine] ist eine Grupp von 15 bis 16jährigen Nazis, in Rumänien haben die Legionäre geheißen, zu uns nach Haus gekommen. Das waren Kinder - junge Buben - größtenteils in Nationaltracht. Die rumänische Nationaltracht ist der griechischen sehr ähnlich, auch mit dem Hemd über der Hose. Es war um vier, fünf Uhr in der Früh, es ist gerade hell geworden. Sie sind in das Schlafzimmer meiner Eltern gegangen und haben gesagt: ‚Bleibt liegen!’ Einige sind in mein Schlafzimmer gekommen. Einer hat auch zu mir gesagt, ich soll liegen bleiben, also bin ich liegen geblieben. Auf einem Sessel lagen meine Sachen. Nicht so sehr Sessel, sondern ein Kleidergestell war das: Rock, Hose und das Hemd hingen darauf. Einen dieser Sessel habe ich hier in meiner Wohnung und einen habe ich in Israel. Sie fragten, ob sie die Sachen untersuchen dürfen. Ich gestattete zu schauen, was ich in den Taschen habe, und sie fanden meine Brieftasche und in der Brieftasche ein Kuvert. Einer nahm es heraus und las den Brief.
In Rumänien war es Tradition, dass die Mädchen am 1. März den Buben irgendetwas schenkten. Zum Beispiel eine Blume, die sie mit einem ganz dünnen rot-weißen Faden mit Fransen wie ein Pinsel am Ende, umwickelten. Das nennt man Märzischor. Nicht nur eine Million, mehrere Millionen hat man verkauft, weil das alle Rumänen machen. Aber heutzutage schenkt auch ein Bub einem Mädchen, sie schenken sich gegenseitig einen Märzischor. Damals aber bekam man das nur von einer intimeren Freundin geschenkt. Meine Freundin war blond und hatte ein Haar mit diesem Faden eingewickelt und auf eine Visitkarte schief angepickt. Und was habe ich gemacht als ich das bekommen habe? Ich habe auch eine Visitkarte genommen und habe ein Gedicht geschrieben für sie. Wenn man die ersten Buchstaben des Gedichts senkrecht liest, dann stand da ihr Name. Sie hieß Valeria Georgian, also war das ein ziemlich langes Gedicht. Und ich hatte den Märzischor und mein Gedicht zusammen in einem Visitkartenkuvert in meiner Anzugtasche. Da erinnerte sich einer der jungen Nazis, dass einmal ein Bursche aus dem Bezirk - es gab nur ein einziges Lyzeum und diese Buben waren auch von diesem Lyzeum - eigentlich waren sie meine Nachfolger, mit einem rumänischen Mädchen ging und es einen Skandal gegeben hatte. So etwas hat sich natürlich herumgesprochen. Dieser Bub erinnerte sich an den Skandal. Ich bin im Bett gelegen, es war Tag geworden, aber es war noch nicht ganz hell. Und ich hab die Augen geschlossen und gehört, wie die geflüstert haben. Einer von diesen jungen Buben sagte zu den anderen:
‚Schaut dieses Gedicht an, wie schön. Und außerdem, erinnert ihr euch nicht? Er war unser Rechtsaußen, er hat immer so gut gespielt.’
Ich war ein sehr guter Fußballspieler. Im Lyzeum war das sehr wichtig. Es gab damals einen großen Fußballer der hieß Dobei [Anm.: Stefan Dobei], und viele hatten gesagt, ich sei wie der Dobei. Und ich hörte, wie der eine zu den anderen sagte:
‚Lassen wir sie in Ruhe.’
‚Alle’, fragte ein anderer.
‚Ja’, sagte er zu den Kollegen.
Ich erzähle das gerne, weil das in einer gewissen Art zeigt, dass die Deportationen nicht von der Masse der Nazis gemacht wurden. Das rumänische Volk hat die Deportationen der Juden nicht gewünscht und hat das auch sehr bedauert. Und diese kleinen Lausbuben, ich war damals 22 Jahre alt, haben gesagt: ‚Lassen wir sie in Ruhe!’ Dann sind sie alle weggegangen.
Period
Location

Rumänien

Interview
Siegfried-Buby Schieber