Tag #133081 - Interview #78548 (Emilia Ratz)

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Meine Mutter sprach sehr gut russisch. Mit ihrer Schwester und mit ihrem Bruder korrespondierte sie immer in russischer Sprache und mit ihrer Freundin sprach sie nur russisch. Einmal, ich erinnere mich genau, das ist ein charakteristisches Ereignis für die Vorkriegsverhältnisse in Polen, kam sie nach einem Treffen mit ihrer Freundin ganz verweint nach Hause. Antisemitismus in Polen war das eine, das andere war ein schrecklicher Russen- und Bolschewistenhass. Sie war mit ihrer Freundin im Kaffeehaus, und dann fuhren sie mit der Straßenbahn und sprachen russisch miteinander, woraufhin sie von den Mitreisenden als Bolschewiken beschimpft wurden. Mein Vater sagte: ‚Wie oft habe ich dir gesagt, in diesem Land liebt man diese Nachbarn nicht, und du sollst an öffentlichen Plätzen nicht russisch sprechen.’

Ich konnte die russischen Buchstaben damals nicht lesen, und als ich das Ukrainisch sah, auch so komische Buchstaben, beschloss ich, zwei solche Sprachen kann man nicht gleichzeitig lernen, und ich konzentrierte mich auf Russisch. [Anm. d. Red.: In der ukrainischen sowie der russischen Sprache werden kyrillische Buchstaben als Schriftzeichen verwendet] In Lemberg waren alle Vorlesungen noch in polnischer Sprache. Aber als wir nach Russland kamen, sprachen alle nur noch russisch. Es gab keine Lehrbücher, und ich schrieb immer alles mit der Hand mit, und diese Hefte gab ich dann auch den anderen zum Lernen. Daran konnte man sehr gut erkennen, wie sich meine Sprachkenntnisse entwickelten. Leider habe ich ein Heft, das ich nach dem Krieg nach Polen mitgenommen hatte, vor 30 Jahren, noch in Polen, weggeworfen. Es begann in polnischer Sprache, und mit der Zeit sieht man, wie ich die russische Sprache beherrschte und immer mehr russisch schrieb.
Period
Location

Stalingrad
Russland

Interview
Emilia Ratz