Tag #115450 - Interview #79436 (Friedrich Seliger)

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Im Jahre 1944 hat man 10. 000 ungarische Juden nach Wien gebracht. Die haben hier gearbeitet, Wien vom Schutt der Bombardierungen gesäubert. Für diese Leute war mein Vater auch verantwortlich. Fast alle wurden dann deportiert und ermordet. Mein Vater hat gesagt, ich kann das nie vergessen: Ich werde Hitler überleben! Woher hat er die Sicherheit genommen? Er hat an den Herrgott geglaubt, und es ist ihm gelungen zu überleben.

Mein Vater hat mir erzählt, wie das damals war. Der Herr Löwenherz [19] hat ihn gerufen und hat ihm gesagt:
‚Herr Seliger, tut mir sehr leid, von heute an gehören Sie nicht mehr zur Kultusgemeinde, Sie gehören zum Sonderkommando.’ So hat das geheißen.
Das Lebensmittelmagazin befand sich in der Großen Pfarrgasse. Eines Tages, es war Samstag, klopfte jemand an die Tür. Hereingekommen ist ein SS Mann, der zu meinem Vater sagte: ‚Ich suche den Herrn Seliger.’ Sagte mein Vater:
‚Das bin ich.’ Meine Mutter war auch da, und der Mann sagte:
‚Warum ist es hier so finster?’ Sagte mein Vater:
‚Ich bin religiös, ich drehe das Licht am Samstag nicht auf.’ Der SS Mann sagte:
‚Wo ist der Schalter, dann mach ich das Licht an.’
Es entstand ein Einvernehmen. Der Mann war ein anständiger Mensch, er sagte zu meinem Vater:
‚Was Sie machen, interessiert mich nicht. Wichtig ist, dass nichts fehlt; keine ’schwarzen Geschäfte’. Und so war es, das war das Verhältnis zwischen ihnen. Jede Flasche Öl war ein Vermögen wert.

Der SS-Mann war kein überzeugter Nazi. Vor dem Krieg war er Kriminalbeamter im Sudetengebiet. Alle Berufspolizisten hat man in die SS gezwungen. Ich habe einen Brief, in dem steht, dass er 600 Juden das Leben gerettet hat. Diesen Brief haben ungarische Juden nach dem Krieg an meine Eltern geschrieben. Sie bedankten sich bei ihnen für die große Hilfe, ohne die sie nicht überlebt hätten und erzählen, dass Knoll, so hieß der SS Mann, in den letzten Tagen des Krieges 600 Juden gerettet hatte. Meine Mutter hat erzählt, als die Russen schon in Wien waren, meine Eltern gehörten zu den wenigen Juden, die wegen der Arbeit meines Vaters ein Telefon hatten, klingelte es in der Früh und der Knoll sagte:
‚Frau Seliger, wo ist Ihr Mann?’ Meine Mutter sagte:
‚Es wird geschossen, mein Mann ist das Magazin bewachen gegangen.’ Da sagte er:
‚Ich wollte mich verabschieden, lassen Sie ihn schön grüßen, Gott schütze Sie!’

Die letzten Tage versteckten sich meine Eltern mit anderen Menschen in den unterirdischen Kanälen Wiens, denn auf den Strassen wurde geschossen. Meine Mutter sagte, sie hätte damals in den zehn Tagen zehn Kilo abgenommen. Als sie raus kamen, waren die Russen da. Die Russen wollten sie sofort erschießen. Sie haben natürlich nicht gewusst, wer meine Eltern sind. Meine Mutter konnte russisch sprechen und rief:
‚Wir sind Juden!’
Da hat man sie gelassen. Dann sind meine Eltern nach Ottakring zur Mizzi, der Freundin meiner Mutter, gegangen, wo wir mal gewohnt hatten. Da blieben sie, bis sich die Situation beruhigt hatte. Mein Vater ging dann wieder in die Kultusgemeinde.

Ich hatte Glück! Nachbarn aus Ottakring  lebten in Tel Aviv.  Das waren Juden, die 1934 ausgewandert waren. Bei ihnen konnte ich eine Zeit lang bleiben. Dann hatte ich meine Tante Mali, die Schwester meiner Mutter, mit ihrer Familie in Haifa. Dadurch ging ich nach Haifa.

Fast sechs Jahre diente ich im englischen Militär, dann im jüdischen Militär.

Im September 1944 bekam ich eine sehr schwere Ohrenentzündung. Ich war drei Monate im Spital. Damals gab es noch kein Penicillin. Die Ärzte glaubten, dass ich nicht überlebe. Ich hatte hohes Fieber, und man konnte mich nicht operieren. Doch plötzlich ist das Fieber runter gegangen, da wurde ich sofort operiert. Durch die Operation hatte ich ein Loch im Rücken, bis heute kann man es noch sehen. In der britischen Armee gab es ein Gesetz, wenn jemand mehr als 21 Tage nicht in seiner Einheit war, dann musste er ins Zentraldepot. Ich war bei der Royal Artillery. Das Zentraldepot war in Ägypten, ich blieb ein halbes Jahr in Ägypten.
Eines Tages wurde ich neu ausgestattet. Ich war der einzige Israeli dort, auf meiner Schulter stand ‚Palestine’, denn Israel gab es noch nicht. Ich musste zur Ehrenparade für den König Faruq, der von 1936 bis 1952 König von Ägypten war.
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Interview
Friedrich Seliger