Tag #116776 - Interview #79580 (Timothy Smolka)

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Das Geschäft meines Großvaters wurde 1938 durch seinen Großhandelskunden Komolka arisiert. Im Jahre 1948 bekam mein Großvater, der mit seiner zweiten Frau Toni vor dem Holocaust nach London geflohen war, bei der Rückstellungsverhandlung das Geschäft zurück. Er kam aus London nach Wien zu Besuch und nach einer Woche sagte er: ‚Ich kann nicht hier bleiben, ich sehe die Leute auf der Straße, die mich zehn Jahre vorher angespuckt haben. Ich gehe nach London zurück.’ Er bot das Geschäft meiner Mutter an, aber sie hatte weder Lust noch die Absicht, ein Stoffgeschäft zu besitzen. Daraufhin löste der Ariseur Komolka das Geschäft ab und betrieb es weiter. Heute ist es noch immer im Familienbesitz der Komolkas.

Wir betraten dieses Geschäft nie, das gehörte dem Ariseur und war für uns nicht existent. Die Schwester meiner Mutter, meine Tante Anita, kam nach dem Krieg von Zeit zu Zeit nach Wien, um uns zu besuchen. Sie war 1936 nach London emigriert und hatte dort den in Wien geborenen Kaufmann Georg Kaufmann (einem Sohn des Malers Isidor Kaufmann) kennen gelernt und geheiratet. Sie bekamen nach dem Krieg, 1952, ihren Sohn Peter, der in London lebt. Anita hatte nach dem Krieg nicht mehr die Absicht, sich in Wien wieder niederzulassen und sagte immer: ‚Da bin ich hinausgeschmissen worden, da komme ich nicht mehr zurück, aber ich komme euch besuchen.’ Als sie wieder einmal zu Besuch war, fuhr sie mit meiner Mutter in ein Kurhotel in die Steiermark. Dort waren die beiden Damen, 70 und 75 Jahre alt, mit dem Rad unterwegs, die Tante stürzte und zog sich einen Schenkelhalsbruch zu. Sie kam in Wien ins Spital, und danach wohnte sie bei meiner Mutter zur Rekonvaleszenz. Da sie in dieser Zeit Puppen für ihre Enkelinnen nähte und dazu eine bestimmte Art von Stoff in Geschäften suchte, wurde ihr von einer Verkäuferin in Hietzing gesagt, dass das einzige Geschäft, dass diesen Stoff führe, der Komolka in der Mariahilferstrasse sei. Meine Mutter sagte, sie fahre gern mit dem Auto hin, aber betrete dieses Geschäft nicht und warte eben draußen. Meine Tante Anita ging hinein, blickte sich im Geschäft um, und sagte: ‚Es hat sich aber sehr verändert.’ Worauf der Besitzer fragte: ‚Kennen Sie denn dieses Geschäft?’ ‚Ja, das war das Geschäft meines Vaters’, sagte meine Tante. ‚Sie sind die Tochter von Max Jäckel? Kommen Sie bitte in mein Büro!’ Und dann erzählte er folgendes: ‚Meine Mutter war Jüdin! Mein Vater arisierte das Geschäft Ihres Vaters und meine Mutter arbeitete den ganzen Krieg über im Geschäft. Niemand kam darauf, dass sie Jüdin war, und so überlebte sie den Holocaust.’ Ich könnte nun doch einmal hineingehen, vielleicht werde ich es auch irgendwann tun.
Interview
Timothy Smolka