Tag #116778 - Interview #79580 (Timothy Smolka)

Selected text
Meine Eltern heirateten 20-jährig, am 12. April 1933, im Rathaus auf dem Standesamt. Mein Vater war ein bewusster Jude, aber als Linker war er der Meinung, Religionen bringen die Menschen nur auseinander, und im Sozialismus werden einmal alle Menschen gleichberechtigt sein. Er trat aus der Kultusgemeinde aus, denn zu dem Zeitpunkt konnte man standesamtlich nur heiraten, wenn man keiner Religionsgemeinschaft angehörte. Ich glaube aber, meine Mutter blieb Mitglied der Kultusgemeinde. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich sagte mein Großvater mütterlicherseits zu meinem Vater, es sei jetzt nicht die Zeit, sich von seinen Leuten zu distanzieren und bat ihn, dass er ihm die Vollmacht geben möge, ihn wieder in die Kultusgemeinde einzuschreiben. Meinem Vater war das egal und er sagte: ‚Mach was du willst!’ Nach dem Krieg, als meine Eltern wieder in Wien waren, wollte die Kultusgemeinde von meinem Vater die Kultussteuern für die Jahre seit 1938. Mein Vater sagte, er sei doch 1933 ausgetreten, und sie sagten, das stimme, aber er sei 1938 wieder eingetreten. Mein Vater wollte einen Vergleich, aber sie waren nicht bereit dazu. So zahlte er und trat danach, auch im Namen seiner Frau und Kinder, aus der Kultusgemeinde aus. Und so waren wir bis auf weiteres ohne religiöses Bekenntnis.
Interview
Timothy Smolka