Tag #116798 - Interview #79580 (Timothy Smolka)

Selected text
Eva war ungefähr zehn Jahre alt, als der vierteilige amerikanische Fernsehfilm ‚Holocaust’ gesendet wurde. Sie wollte sich den Film ansehen und nach dem ersten Teil sagte sie: ‚So etwas könnte uns doch jederzeit wieder passieren!’ Wir erschraken sehr, weil wir genau das gemacht hatten, was wir unseren Eltern vorgeworfen hatten: Zugehörigkeit zum Judentum war nichts Positives für unsere Kinder, es war nur negativ und hatte Verfolgung zur Folge. Ich arbeitete im Spital und eines Tages kam ich mit einem Medizinstudenten, den ich mit ausbildete, ins Gespräch. Vom ersten Tag an hatte ich gewusst, dass er Jude. Als ich ihn fragte, sagte er: ‚Ja, du auch?’ Ich antwortete: ‚Sicher bin ich Jude, aber ich bin nicht Mitglied in der Gemeinde.’ Er fragte mich, warum ich nicht Gemeindemitglied sei. Und ich erklärte, wie das kam, dass meine Eltern auch in unserem Namen ausgetreten waren und dass ich mit Religion nichts zu tun habe. Und da sagte er zu mir: ‚Du bist Jude, und du tust dir nichts Gutes, wenn du nicht dazu gehörst!’

Es waren mehrere Ereignisse, auch der Antisemitismus, den ich aber direkt nicht zu spüren bekam, dass meine Frau und ich beschlossen, dass es falsch sei, nicht dazuzugehören, nicht Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu sein. Ich sprach mit dem Rabbiner und er sagte, es sei kein Problem, da ich von jüdischen Eltern und meine Frau von einer jüdischen Mutter abstammen. Eines versprach ich dem Rabbiner: Wir werden lernen!

Wir wurden Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, begannen, in die Synagoge zu gehen und lernten gemeinsam mit unseren Kindern zehn Jahre lang jede Woche einmal die jüdische Religion. Unser Lehrer Mendi Moshkovitz kam jeden Mittwoch um sieben Uhr abends, um halb neun gingen die Kinder schlafen, und wir saßen mit ihm bis Mitternacht und sprachen im wahrsten Sinne über Gott und die Welt. Er wurde ein wirklicher Freund der Familie, auch der Kinder.

Mein Vater starb am 4. November 1980, im Alter von 68 Jahren, in Wien. Meine Frau und ich waren Mitglieder der Kultusgemeinde, unsere Kinder auch, und irgendwann sagte meine Mutter:

‚Es ist doch idiotisch, ihr seid alle in die Kultusgemeinde eingetreten, ich bin jüdisch geboren und jüdisch aufgewachsen, ich will auch wieder eintreten.’ Ich sprach mit dem Rabbiner und natürlich gab es keinen Grund, warum meine Mutter nicht Mitglied der Kultusgemeinde werden sollte. Also gingen wir gemeinsam ins Matrikelamt und sagten, meine Mutter möchte in die Kultusgemeinde eintreten, sie hat einen jüdischen Geburtsschein, und wir haben alles dabei. Die Beamtin, ein relativ junges Mädchen sagte: ‚Nein, das geht leider nicht.’

‚Warum soll das nicht gehen? Ich hab schon mit dem Rabbiner gesprochen, er weiß davon und hat Ihnen Mitteilung gemacht.’ Ich war entsetzt! Aber sie sagte: ‚Nein, es geht auf gar keinen Fall - heute. Ich hab mir in der Früh beim Frühstück den Finger verletzt und kann nicht mit der Schreibmaschine schreiben.’ Daraufhin durfte ich die Schreibmaschinenarbeit übernehmen und nahm somit meine Mutter in die Kultusgemeinde auf.

Meine Mutter ging dann wieder zu den Hohen Feiertagen [25] in die Synagoge. In den 1980er-Jahren arbeitete sie im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes [26].
Period
Interview
Timothy Smolka