Tag #117054 - Interview #78518 (Siegfried-Buby Schieber)

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In Shargorod, einem kleinen Ort, lebten 1 000 Einwohner. Dann kamen 5 000 Deportierte dazu und die mussten mit den Einwohnern zusammen leben. Es wurde ein Ghetto, im wahrsten Sinne des Wortes. In allen diesen Städtchen, wo Juden gewohnt hatten, wurden Ghettos errichtet. Zusammengepfercht mussten wir zusammen in den Häusern leben. Diese Juden waren schon so ausgehungert, dass wir sie gerettet haben, nicht sie uns. Dort war nicht ein einziger Jude der etwas hatte, um zu überleben. Aber gegenüber den anderen Lagern wie das KZ Auschwitz und wie die alle hießen, war es ein Paradies, das kann man nicht vergleichen.

Wir hatten das Quartier Nummer acht. Zuerst haben wir viele Sachen verkauft um zu heizen und zu essen. Dann bekamen im Frühjahr elf von zwölf Mitgliedern meiner Familie Typhus, auch ich bekam Typhus. Zuerst starb meine Großmutter Rachel und innerhalb kurzer Zeit mein Vater Abraham Schieber, meine Tanten Miriam und Cirl Schieber, Lea Rennert, geb. Schieber, mein Onkel Herman Rennert, meine Cousine Sofia Rennert und mein Großvater Jacob Josiper. Mein Vater ist zwar wie die anderen Mitglieder meiner Familie an Flecktyphus gestorben, aber seelisch war er schon tot. ‚Wieso konnten sie mir das antun?’ hatte er immer wieder gefragt.

Ein Kinderfreund, der Sohn eines rumänischen Pfarrers, hat mir sehr geholfen zu überleben. Ich musste beim Straßenbau arbeiten und eines Tages, es war im Sommer 1942, kam ich zurück nach Hause in dieses Shargorod, da sagte man mir: ‚Es war ein Rumäne hier, er heißt Mircea Breaban. Er hat gesagt, dass er ein Kollege aus der Jugendzeit ist, und er wird sich noch einmal melden. Mircea und ich waren Kinderfreunde, hatten uns aber auch einmal wegen dieses blonden Mädels, das ich verehrt hatte, gestritten.

Am nächsten Tag war ich wieder bei der Arbeit, da erschien die Sekretärin des Chefs. Prätor Dindelegan war ein Rumäne und Chef über alle Lager, die dort waren. Die Sekretärin sagte:
‚Du hast großes Glück, es war ein Freund aus deiner Kindheit beim Chef und hat gesagt, dass er dir helfen soll. Auf einem Lastwagen hat mich der Prätor eigenhändig zurück gefahren nach Shargorod. Ich musste nicht mehr zu meiner Arbeit am Straßenbau, sondern ich wurde in der Zuckerfabrik in Derebcin der Berater des Fabrikverwalters. Mircea hat mich dann auch in der Zuckerfabrik besucht. So ein Glück wie ich hat nicht jeder gehabt.

Der Chef der Zuckerfabrik war ein Rumäne, ein wunderbarer Mensch, der mich sehr unterstützt hat. Als Gehalt bekam ich Geld und Zucker. Bei der Zuckerherstellung entsteht als Nebenprodukt Melasse. Aus Melasse kann man Alkohol herstellen, genauso wie aus Getreide oder aus Kartoffeln. Die Arbeiter der Zuckerfabrik bekamen monatlich zu ihrem Gehalt Zucker und Melasse. Die Melasse verkauften sie an die Ukrainer, die in kleinen Kesseln daraus das alkoholische Getränk Samagon herstellten.

Eines Tages kam ich aus der Fabrik und sah, wie sich die Arbeiter mit den Käufern der Melasse gestritten haben. Sie stritten nicht über den Preis, der war festgelegt, aber die Ukrainer haben versucht, sie zu betrügen. Ich machte den Arbeitern den Vorschlag, ihnen die Melasse abzukaufen, womit sie einverstanden waren und verkaufte die Melasse en gros an die Ukrainer. So verdiente ich viel Geld, half meiner Familie und vielen anderen, denn ich gab das Geld der Kultusgemeinde für die Kantine. Wenn es in der Kantine Brot und Suppe gab, hatten tausende Menschen eine Überlebenschance. Ich pflegte das Geld in einem Sack in die Kultusgemeinde zu bringen. Dort war ein kleiner siebenjähriger Bub, den die Kultusgemeinde schützte vor der schweren Arbeit. Er durfte Staub wischen und wenn ich das Geld brachte, hat er es gezählt und gebündelt. Was ich erlebt habe, ist ein Wunder: Ein Mann, der nichts gehabt hat, wird auf einmal ein reicher Mann und gibt viel Geld den Armen. Ich habe vielen Familien geholfen. Zum Beispiel: Isidor Kreisel wurde zum Tod von den Rumänen verurteilt, weil er Ware zum Überleben von den Soldaten gekauft hatte. Sein Schwager kam zu mir und sagte: ‚Ich brauche 400 Dollar, damit ich das Leben des Bruders meiner Frau retten kann.’ Ich habe ihm die 400 Dollar geborgt und man hat kleine Goldstücke hergestellt, Napoleons. Das sind berühmte Münzen, so berühmt wie der Dollar. So eine Münze kostet zehn Dollar. Die Schwester vom Isidor, die eine Tochter Sascha hat, hat die Münzen in einen Gürtel aus Stoff genäht. Der Vater von Sascha ist mit diesem Gürtel nach Tiraspol gefahren, das am Schwarzen Meer liegt, um seinen Schwager zu retten. Das war wirklich heldenhaft. Er hat das Bakschisch gegeben [Bestechungsgeld] und seinen Schwager nach Hause gebracht. Wenn nicht, hätte man ihn erschossen. Später ist Isidor Kreisel in Israel gestorben. Sascha ist Universitätsprofessorin, lebt in Bukarest und ist mir sehr dankbar, dass ich ihren Onkel gerettet habe.
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Siegfried-Buby Schieber
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