Tag #117749 - Interview #82830 (Sylvia Segenreich)

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Mein Vater blieb versteckt, meine Mutter hat die Wehen bekommen, und ich mit meinen 15 Jahren musste die Familie versorgen. Aber wie war die Auswahl? Wer ist auf die eine Seite gekommen, wer auf die andere? Warum war der Vater da und mein Bruder dort? Man hat sie irregeführt, es hieß, sie gehen zur Arbeit. Darum hat mein Vater mit meinem Bruder zusammen sein wollen. Mein Bruder war gerade 18 Jahre alt.

Ich war also nun die Versorgerin, aber man durfte nicht hinaus auf die Strasse. Zum Glück war der jüngere Bruder meiner Tante blond und hatte blaue Augen. Er hat sich Stiefel angezogen und sah dadurch aus wie ein SS-Mann. Irgendwo hat er so ein Wagerl gefunden, die Mama hereingesetzt in dieses Wagerl, und wir sind gefahren in das so genannte jüdische Spital. Da hat sie entbunden. Aber was sich dort getan hat, schwer kranke Leute standen auf der Strasse. Aus allen Spitälern hatte man die Juden hinaus geworfen und dort waren dann alle. Ich ging dann allein nach Hause, aber im Spital gab es nichts zu essen, gar nichts!

Die Russen hatten unsere Eiskellereien beschlagnahmt. Wir hatten dann bei meiner Großmutter gewohnt, denn aus unserem Haus mussten wir ausziehen. In den Eiskellereien hatten die Russen Lebensmittel gelagert. Czernowitz war unter rumänischer Verwaltung, und die Rumänen waren nicht so schlecht wie die Deutschen. Meine Tante Mania und ich sind zum rumänischen Hauptmann gegangen, wir haben mit ihm rumänisch gesprochen, und wir haben gesagt, dass wir verhungern, denn wir haben nichts mehr zu essen. Das ganze Haus in dem wir wohnen ist voller Juden, und meine Mutter ist im Spital, und die Leute im Spital haben auch nicht zu Essen. Wir wissen, die Russen haben Lebensmittel zurückgelassen. Der Rumäne war sehr nett, und er sagte, dass wir um 6 Uhr kommen sollen. Dann schicke er den Wachposten, der vor den Eiskellereien stehe weg, und wir hätten eine halbe Stunde Zeit, in der wir alles, was wir tragen können, mitnehmen dürfen. Wir sind mit Schüsseln gegangen und alle Einwohner des Hauses haben etwas bekommen, und ich habe für das Spital Proviant zusammengepackt. Die Krankenschwestern haben kaum erwarten können, dass ich komme. Aber ich durfte um diese Zeit nicht auf die Strasse. Ich habe mir Zöpfe gemacht, habe mich angezogen wie ein Mädel vom Land und bin barfuss gegangen. So wurde ich die Ernährerin. Als meine Schwester geboren wurde, gab es nichts, es gab auch keine Windeln. In welchen Zustand meine Mutter war, brauche ich nicht zu erzählen. Wir haben Leintücher zerrissen und als Windeln benutzt.

Meine Schwester heißt im jiddischen eigentlichen Rivka, nach der Großmutter. Hier in Wien heißt sie Renée. Sie wurde am 14. Juli 1941 geboren, fünf Tage, nachdem mein Bruder von den Deutschen ermordet wurde.
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Interview
Sylvia Segenreich
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