Tag #118069 - Interview #78276 (Renate Jeschaunig)

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Meine beste Freundin war die Hedy Schlesinger. Hedys Vater war der Rechtsanwalt Doktor Schlesinger, sie wohnten im 5. Bezirk und seine Kanzlei hatte er in der Wipplingerstraße, wo meine Eltern ihre Wohnung und Ordination besaßen.

Wir verbrachten alle Urlaube miteinander. Hedy Schlesinger war die jüngste von drei Kindern, sie war so alt wie ich. Ihre Schwester Eva war zwei Jahre älter, ihr Bruder Wolfgang, genannt Wolfi, sechs Jahre älter.

Bei Wolfis Bar Mitzwa habe ich zum ersten Mal in meinem Leben ein kleines Stamperl Eierlikör getrunken, selbstgemacht von der Frau Schlesinger.

Wir verbrachten auch unsere Sommer zusammen. Damals war es noch nicht üblich, dass Anwälte oder Ärzte Autos hatten. Und so waren unsere Familien immer irgendwo, wo unsere Väter mit der Bahn oder sonst einem öffentlichen Verkehrsmittel abends nach Hause konnten.

Familie Schlesinger mietete immer ein ganzes Haus, weil sie drei Kinder hatten, wir mieteten immer eine Wohnung.

1935, bevor wir in den Urlaub fuhren, hatte ich eine Kinderkrankheit. Unser Kinderarzt war der berühmte Professor Kuntratitz, und als er mich untersuchte, machte er meine Mutter aufmerksam, sie müsse mich aufklären.

Nachdem er gegangen war, hat sie das versucht, aber ich habe ihr erklärt, dass das nicht notwendig sei, da der Wolfi Schlesinger mich schon aufgeklärt habe, worauf meine Mutter einen Schock bekam.

Dann habe ich ihr das erklärt: Die Schlesingers hatten ihr Haus neben dem Bauernhof, der den Gemeindestier besaß. Und der Wolfi hatte seine Schwestern und mich zum Gemeindestier und der Kuh geführt und gesagt: 'Das machen Erwachsene, wenn sie ein Kind kriegen.' Daraufhin war meine Mutter beruhigt.

Wir haben wunderbare Urlaube in Piesting verbracht. Unter meiner Organisation haben wir 'Das weiße Rössl' von Benatzky aufgeführt. Wir verlangten von unseren Eltern und Freunden 50 Groschen Eintritt.

Das muss sehr viel gewesen sein, denn wenn meine Eltern, mein Bruder und ich sonntags in Piesting essen gegangen sind, haben wir um 5 Schilling alle vier sehr gut gegessen.

Wir haben die 50 Groschen aber nicht für uns verwendet, wir haben es den armen Kindern gegeben. Wir waren gut erzogen, weder die Schlesingers noch meine Eltern haben vor dem Hitler am Hungertuch genagt.
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Interview
Renate Jeschaunig