Tag #118451 - Interview #78294 (Herbert Lewin)

Selected text
Meine Großmutter trug eine Perücke, einen Scheitl [1], und am Freitagabend ist sie stillschweigend verschwunden. Über dem Geschäft hatte sie ihre Wohnung: zwei Zimmer und eine fleischige Küche. Unten, neben dem Lokal, war ihre milchige Küche. Wenn sie gewusst hat, dass der Schabbes [2] kommt, ist sie raufgegangen und hat Lichter gebenscht [Anm.: gesegnet]. Sie hat gewusst, bei uns zu Hause ist trefe [3]. Wir waren sehr gern bei ihr gesehen, wir sind oft bei ihr oben gewesen, aber sie ist nicht einmal zu uns in die Wohnung gekommen, weil sie gewusst hat, sie kann bei meiner Mutter nicht einmal ein Glaserl Wasser trinken, weil es trefe ist. Also so was von Toleranz! Sie hat gewusst, wir essen Schinken, wir essen Schweinsbraten - nie hat sie ein Wort darüber verlauten lassen, und deshalb war sie bei uns allen unheimlich beliebt. Ich kann mich erinnern, dass sie in ihrer Schürzentasche immer 'Kaisers Brustkaramellen' hatte, von denen sie uns gab. An den hohen Feiertagen [4] sind wir zu ihr raufgegangen und haben ihr gute Feiertage gewünscht. Aber dann sind wir wieder weggegangen. Wir haben sie allein gelassen, denn sie hat gebetet. Sie ist die letzten Jahre sogar in die Synagoge gegangen.
Interview
Herbert Lewin