Tag #118609 - Interview #78311 (Richard Kohn)

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Jeden Monat gab es einen Zirkel, ein kleiner Kurs mit dem Sekretär der Parteiorganisation unserer Kohlengrube. Die Genossen der Partei wurden geschult. Viele waren nicht sehr gebildet, sie hatten nur vier oder fünf Jahre eine Schule besucht und wenn einer das Technikum beendet hatte, dann konnte er schon Direktor werden. Ich war kein Parteimitglied, aber ich besuchte diese Schulungen, denn ich wollte die russische Sprache hören und lernen. Russisch war ja die Hauptsprache, nur zu Hause sprachen die Kasachen kasachisch.

Ich ging zu den Kursen und dann wurde ich sogar ein Vortragender. Ich sprach über viele Dinge, über die internationale Lage, darüber warum Österreich neutral ist, und ich erzählte über Wien. Man wollte mich sogar in die Partei aufnehmen. Ich hatte russische Zeitungen, die 'Volksstimme', das war oder ist die kommunistische Tageszeitung aus Wien und die 'Berliner Zeitung' aus der DDR. Ohne Zeitungen kann ich nicht leben. Vom Parteisekretär bekam ich ein Empfehlungsschreiben und nach einem halben Jahr war ich russischer Staatsbürger. Ich habe daraufhin meinen österreichischen Pass nach Österreich zurückgeschickt und geschrieben: 'Leider kann ich den Pass nicht benützen, weil man mich nicht heraus lässt.' Das war im Jahre 1953. Jahrzehnte später half mir der Pass dann aber sehr.

Nachdem ich die sowjetische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, sagte der Parteisekretär zu mir, er hätte eine andere Arbeit für mich, und ich wurde Leiter eines Kulturklubs. Im Kulturklub wurde getanzt, gesungen und politische Propaganda für den Kommunismus gemacht. Also habe ich auch viel lügen müssen. Aber unsere Kumpel aus dem Kohlengebiet kamen mit ihren Frauen zum Tanz, und das Leben dort war sehr hart, und im Kulturklub hatten sie ein wenig Abwechslung. Der Klub hieß 'Klub der Arbeiter' und ich habe diese Arbeit sehr gern gemacht. Ich hatte sehr guten Kontakt zu den Leuten, und sie fragten mich viele Dinge, weil ich klüger war. Ich organisierte eine gute Unterhaltung. Die Zeitungen schrieben über meine Arbeit im Klub, und ich wurde sehr gelobt. Nach Stalins Tod im Jahre 1953 durften wir sogar Tango und andere westlichen Tänze tanzen, was vorher verboten war. Niemand hat mich angegriffen, weil ich Jude bin. Alle haben es gewusst, weil ich es nie verschwiegen habe. Ein jüdisches Leben lebten wir aber nicht, das wäre gar nicht möglich gewesen.
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Interview
Richard Kohn