Tag #118794 - Interview #78295 (Stella Semenowsky)

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Mein Vater hatte seine Frau und seine vier Töchter aus Wien weggeschickt, blieb aber selbst den ganzen Krieg über in einer Wohnung als U-Boot [21] versteckt. Die Wohnung war im 2. Bezirk, in einem seiner Häuser. Die Hausbesorgerin dieses Hauses hieß Frau Melzer. Ich weiß noch, dass meine Mutter sich vor dem Krieg immer aufgeregt hat, weil mein Vater die Hausbesorgerin per 'Gnädige Frau' angesprochen hat und ihr Weihnachten und Ostern Geschenke gebracht hat. Diese Frau Melzer hat vor die Tür zu einem Kabinett [Anm.: kleines Zimmer] in einer leeren Wohnung einen Kasten gestellt, so dass niemand sehen konnte, dass da noch ein Zimmer war, und sie hat meinen Vater mit Nahrung versorgt. Er hat aber sein Versteck von Zeit zu Zeit verlassen und ist in die Stadt gegangen, um 'Geschäfte' zu machen. Einmal - es war kurz vor Ende des Krieges - hat jemand meinen Vater in der Straßenbahn vor dem Parlament erkannt und geschrieen: 'Das ist ein Jud, der trägt keinen Stern!' Der Schaffner ließ die Straßenbahn anhalten und rief nach einem Polizisten. Der Polizist kam und zerrte meinen Vater auf die Straße. Nachdem die Straßenbahn weitergefahren war, sagte er zu meinem Vater: 'Jetzt schleich dich [Anm.: wienerisch für verschwinde], du Trottel.
Period
Location

Wien
Austria

Interview
Stella Semenowsky
Tag(s)