Tag #119738 - Interview #78282 (Otto Suschny)

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Einmal hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis: bevor ein Freund, ein ehemaliger Schulkollege, aus Wien emigrierte, schenkte er mir Bücher. Als ich mit den Büchern nach Haus kam, standen in unserem Haustor zwei Männer, einer war ein SA-Mann. Ich muss doch jüdisch ausgeschaut haben, denn der SA- Mann hat mich sofort als Juden erkannt. Er schaute sich die Bücher an und fragte, wohin ich gehe. Dann gab er mir eine Ohrfeige. Das war das einzige Mal, dass ich von einem Erwachsenen als Jude geschlagen wurde. Ich musste ihn in unsere Wohnung mitnehmen. Er wollte, dass mein Vater ihm unsere Bücher zeigt. Mein Vater hatte ein paar Bände von Friedrich Schiller und der SA Mann sagte: 'Was braucht der Jud noch einen Schiller?' Dann fragte er, ob wir Geld im Hause hätten. Mein Vater fragte daraufhin, was er glaube, wie viel Geld ein Arbeitsloser habe und zeigte ihm unser weniges Geld. Der SA-Mann rührte das Geld nicht an, den Schiller nahm er aber mit. Das war alles ein bisschen skurril.

Unsere Lebenssituation war unangenehm, sie ging uns auf die Nerven. Aber man kannte noch nicht diese tödliche Gefahr. Wer hätte sich das auch vorstellen können? Wenn meine Eltern die Gefahr geahnt hätten, hätten sie alles stehen gelassen und versucht zu fliehen. Es gab Leute, die Tickets gekauft haben nach Shanghai. Aber dafür brauchte man viel Geld, und wir hatten nur wenig Geld. Außerdem glaubten meine Eltern zu dieser Zeit noch, man könne das alles schon irgendwie überstehen.
Location

Wien
Austria

Interview
Otto Suschny